Es ist ein Samstag im März 2021. Jasmine, die im Spital Affoltern als Psychiatriepflegerin arbeitet, fühlt sich nicht gut. Das für Sonntag geplante Treffen mit Freunden sagt sie vorsorglich ab. Beim Abendessen riecht und schmeckt sie plötzlich nichts mehr.
Der Test am Montag ist wie erwartet positiv: Jasmine hat sich bei der Arbeit mit dem Coronavirus infiziert. «Trotz Einhaltung der vom Bund vorgegebenen Schutzmassnahmen», wie sie betont.
Jasmines Zustand verschlechtert sich von Tag zu Tag. Ohne die Hilfe ihres Mannes Neil schafft sie es nicht aufzustehen, ihre Zähne zu putzen, auf die Toilette zu gehen, Essen zuzubereiten.
Als die vom BAG verordneten 10 Tage Quarantäne vorbei sind, ist die damals 32-Jährige weit weg davon, arbeitsfähig zu sein. «Meine Hausärztin sagte mir, ich solle nochmals etwas Geduld haben, und schrieb mich eine weitere Woche krank.»
Aus dieser Woche werden vier Jahre.
Mit geradem Rücken sitzt Jasmine an ihrem Esstisch. Sie hält eine Tasse Tee in der Hand und erzählt von ihrer Erkrankung mit Long Covid, auch als Post-Covid-Syndrom bekannt. «Ich habe nach der Infektion lange gehofft, dass ich eines Morgens aufstehen und mich so fühlen werde, wie wenn eine Grippe langsam wieder abklingt.» Doch das Gegenteil sei der Fall gewesen. Statt weniger wurden es mit der Zeit immer mehr Symptome.
Auf zwei A4-Seiten hat die heute 36-Jährige aufgeschrieben, an welchen Symptomen sie litt oder noch immer leidet. Anhaltende Müdigkeit, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Schweissausbrüche, Kraftlosigkeit, Wortfindungsstörungen, Tinnitus, Koordinationsprobleme, Tremor, die Liste ist endlos.
Nach einer Viertelstunde läuft Hund Kuri um die Ecke und schmiegt sich an Jasmines Stuhl. Der Golden Retriever gibt ihr Kraft, wenn sie mal wieder einen schlechten Tag hat.
Auf dem Tisch liegt Jasmines Medikamentenbox. Neun Tabletten schluckt sie täglich, darunter Präparate gegen Schwindel, Verdauungsstörungen und ihre Histamin-Unverträglichkeit, ein schlafförderndes Antidepressivum am Abend, ein aufputschendes am Morgen.
Vor ihrer Infektion ist Jasmine eine aktive und vitale Frau. Lebensbejahend, wie es so schön heisst. Sie arbeitet gerne und viel, hat ein tolles Team, übernimmt jede Extraschicht, hilft auf der Covid-Station aus, als dort immer mehr Pflegende ausfallen. Sie schliesst einen CAS ab, geht nach der Arbeit 10 Kilometer mit dem Hund laufen, unterstützt ihren Mann dabei, seine Selbstständigkeit aufzubauen.
Dieser Lebensstil hat einen Grund. Jasmine leidet lange an einer angeborenen Deformation der Rückenwirbelsäule, ein sogenannter Gleitwirbel beschert ihr über viele Jahre starke Schmerzen. Nach einer Operation 2019 ist Jasmine schmerzfrei. Endlich kann sie aktiv sein. Sie setzt sich sportliche Ziele, unternimmt mit ihrem Mann Ausflüge, gemeinsam schmieden sie Reisepläne.
Als sich vier Monate nach der Coronainfektion keinerlei Besserung der Symptome einstellt, fällt Jasmine in eine tiefe Depression. «Da realisierte ich, wie schwer krank ich bin und was für Konsequenzen dies für mein Leben haben wird. Ich merkte, dass das nicht mehr ich bin.»
Dass Jasmine nicht mehr sie ist, merkt man auch beim Besuch in ihrem Zuhause im Zürcher Säuliamt. Zunächst gibt sie eloquent Auskunft, verwendet Fachbegriffe, zitiert Studien. Doch nach 40 Minuten wird es ihr zu viel. Der Kopf hat noch einiges zu erzählen, doch der Körper macht nicht mehr mit. Jasmine legt sich hin und überlässt Ehemann Neil das Wort.
«Es ist sehr hart für mich», sagt Neil. «Sie ist nicht mehr die Person, die ich geheiratet habe, die ich seit zehn Jahren kenne. Lebensqualität und Lebensfreude habe ich keine mehr.»
Dann wird der 43-Jährige wütend: «Wenn Jasmine mitten in der Nacht ein Problem hat, schaue ich. Es ist ja sonst niemand da. Doch über die Partner von Menschen, die an Long Covid erkranken, spricht niemand. Niemand fragt nach ihnen. Es fühlt sich so an, als wären wir nicht wichtig, als wären wir wertlos.»
Neil erzählt vom Alltag mit seiner Frau. Vom Stress, der Belastung, den Entbehrungen. Und davon, warum er dennoch nicht von ihrer Seite weicht.
Der 43-Jährige erledigt fast den gesamten Haushalt. Räumt Jasmine den Geschirrspüler aus, wird ihr dabei schwindlig und sie fällt um. Um den Abfallsack herauszubringen, fehlt ihr die Kraft. Ebenso, um länger als 15 Minuten mit dem Hund spazieren zu gehen.
Gehen die beiden einkaufen, kann es vorkommen, dass Jasmine eine Panikattacke durchlebt. Zu viel helles Licht, zu viele Leute – es braucht nur wenige Reize, bis ihr Körper reagiert. Wenn Neil den Einkaufswagen zurückbringt, ist seine Frau im Auto oft schon eingeschlafen.
Das Paar muss seinen kompletten Alltag auf Jasmines Bedürfnisse abstimmen. Spontan etwas unternehmen? Seit vier Jahren unmöglich.
Auswärts essen gehen können die beiden nur, wenn Jasmine ihre Woche darauf abstimmt und an den Tagen vor- und nachher genügend Ruhepausen einplant. «Doch selbst dann wissen wir nie, ob es ihr nicht doch plötzlich zu viel wird», erzählt Neil. «Es kommt oft vor, dass Long Covid unsere Pläne ruiniert. Dann gehen wir enttäuscht wieder nach Hause und ich koche etwas.»
Nebst dem Haushalt und der Betreuung seiner Frau führt Neil eine eigene Firma. Die Freizeit beschränkt sich auf Spaziergänge mit dem Hund und seltene Aktivitäten in einem Verein.
Seine Familie kann der gebürtige Kanadier seit vier Jahren nicht mehr besuchen, weil er Jasmine nicht alleine lassen möchte. In die Schweiz zu kommen, liegt für die Familie aus finanziellen Gründen nur ganz selten drin.
Als sich seine Mutter notfallmässig einer Operation unterziehen muss, macht Neil eine Ausnahme und fliegt nach Kanada. Das Fazit ist ernüchternd: «Es zeigte sich, dass Jasmine trotz toller Hilfe von Freunden ohne meine Rundumbetreuung einfach nicht klarkommt.»
Geht Neil aus dem Haus, bevor Jasmine wach ist, hinterlässt er ihr Notizzettel, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung vieles vergisst. «Den Hund habe ich bereits gefüttert, denk an deine Medikamente.»
An der Wohnungstüre im Hochparterre ist mittlerweile ein automatisches Schloss installiert, weil Jasmine öfter nicht daran denkt, abzuschliessen. «Long Covid macht das Leben so viel anstrengender und komplizierter», sagt Neil frustriert.
Dass er als Selbstständiger von Zuhause aus arbeiten und sich die Zeit frei einteilen könne, sei ein riesiger Vorteil. Anders ginge es aber auch nicht. Neil nennt ein Beispiel:
Jasmine leidet einige Zeit unter massiver Schlafapnoe, schnarcht in einer Lautstärke von über 100 Dezibel, hört zwischenzeitlich auf zu atmen und würgt. Neil ist dauernd in Alarmbereitschaft und schläft auch mal nur zwei Stunden. «Wie könnte ich so in ein Büro gehen und auf einem vernünftigen Niveau arbeiten? Würde irgendein Vorgesetzter dies akzeptieren? Ich glaube nicht.» Seit seine Frau über Nacht eine Schiene trägt, kann er wieder besser schlafen.
Eine Viertelstunde ist vergangen. Jasmine ist wieder wach. Sie wankt verschlafen zurück zum Esstisch. Als Vorurteile gegenüber Long-Covid-Erkrankten zur Sprache kommen, ist sie aber sogleich hellwach. Dass es bis heute Menschen gebe, die Long-Covid-Patienten unterstellten, sich die Symptome nur einzubilden, sei erschreckend.
Jasmine führt aus: «Wir haben nun fünf Jahre an Erfahrungswerten und doch gibt es sogar Fachpersonen, die so denken.» Die 36-Jährige nennt Beispiele von Ärzten, die ihren Long-Covid-Patienten empfehlen, Sport zu machen, damit diese nicht immer so schnell ausser Atem gerieten. «Da stehen mir die Haare zu Berge. Es gibt genug Studien, die zeigen, dass Sport bei Long Covid genau das Gegenteil bewirkt.»
Infektiologe Dominique Braun leitet die infektiologische Sprechstunde am Zürcher Universitätsspital und betont: «Long Covid ist keine psychosomatische Erkrankung und auch keine Einbildung, sondern eine ernsthafte Krankheit.» Empfehle ein Arzt heute einer Person mit Long Covid, Sport zu treiben, habe er von der Krankheit «nichts verstanden». «Bringt man Long-Covid-Patienten an ihre Leistungsgrenze, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand rapide.»
Es kommt vor, dass Leute Jasmine empfehlen, bei Erschöpfung einen Kaffee zu trinken. Oder sie komisch anschauen, weil sie als junge Frau mit einem Rollator unterwegs ist. «Solche Situationen treffen mich jeweils sehr, da schwanke ich zwischen Frust, Trauer und Wut.»
Ein weiteres Beispiel: Jasmine hat eine Parkkarte, die ihr erlaubt, Behindertenparkplätze zu benutzen. Weil man ihr Long Covid nicht ansieht, werden Leute ihr gegenüber regelmässig ausfällig. «Ich wurde schon als alles Mögliche beleidigt», erzählt Jasmine. «Früher sass ich dann im Auto und habe geweint.»
Inzwischen hat sich die 36-Jährige daran gewöhnt, kommt mit bösen Blicken, Beschimpfungen und ungefragten Tipps besser klar. Zudem bespricht Jasmine solche Themen mit ihrem Psychiater, «das hilft enorm».
Doch trotz Therapie, einem wahnsinnig fürsorglichen Ehemann und einer sie unterstützenden Familie: Es gab sie, die ganz dunklen Gedanken. «Ich erlebte Phasen ohne jegliche Hoffnung, in denen ich mich fragte, weshalb ich das alles noch mache. Da kamen Suizidgedanken auf.»
Was Jasmine massiv entlastet, ist die Tatsache, dass sie bisher nie Existenzängste haben musste. Weil sich die 36-Jährige nachweislich bei der Arbeit angesteckt hat und diese Infektion in Long Covid mündete, anerkannte die Unfallversicherung ihre Erkrankung als Berufsunfall. Bis heute erhält sie 80 Prozent ihres Lohnes. Das Krankentaggeld läuft so lange weiter, bis sie gesund wird oder ihr Fall in die Invalidenversicherung übergeht.
Gegen Ende des Gesprächs hat Jasmine das erste Mal Tränen in den Augen. Sie erzählt, wie schuldig sie sich fühlt für das, was ihr Mann seit vier Jahren durchmachen muss. «Ich habe Neil auch schon gesagt, dass er gehen soll.» Die Psychiatriepflegerin führt aus:
Eine Trennung ist für Neil jedoch keine Option. «Ich habe ihr bei unserer Hochzeit das Versprechen gegeben, in guten wie in schlechten Zeiten für sie da zu sein. Ich halte mein Wort, so hat mich meine Familie erzogen.»
Jasmine sagt: «Ich bin sehr froh, ist Neil noch da. Trotzdem rechne ich immer ein bisschen damit, dass er mich verlassen könnte. Mit ‹in guten und in schlechten Zeiten› ist, glaube ich, nicht Long Covid gemeint.»
Woraus schöpft die 36-Jährige Kraft, aller Strapazen zum Trotz weiterzumachen? Jasmine überlegt einen Moment. «Ich glaube, das Leben ist lebenswert, egal wie.» Auf jede schlechte Phase folge eine bessere.
Seit einer Therapie im vergangenen Jahr hat Jasmine keine plötzlichen Zusammenbrüche mehr, etwa wenn sie kurz mit Hund Kuri spielt. Doch sie bleibt realistisch: «Ich glaube nicht, dass ich je so gesund werde, wie ich es vor Long Covid war. Mein Leben wird nie mehr so sein wie zuvor.»
Infektiologe Braun vom Universitätsspital Zürich erklärt: «Die Mehrheit der Long-Covid-Patienten erholt sich. Wenn aber jemand seit drei, vier Jahren an Long Covid leidet und sich keine deutliche Verbesserung einstellt, sieht die Prognose gemäss den Erfahrungswerten, die wir bislang haben, leider nicht gut aus.»
Jasmine und Neil versuchen, sich an den kleinen Momenten zu erfreuen. Manchmal fahren die beiden mit dem Auto in die Natur, sitzen auf eine Bank. Eine halbe Stunde frische Luft, mehr liegt selten drin.
Jasmine sagt: «Immer wieder frage ich mich, was ich falsch gemacht habe, wem ich auf den Schlips getreten bin, dass mich das Karma so trifft. Ich bin nicht eifersüchtig auf andere Menschen, sondern wahnsinnig neidisch. Doch man darf sich nicht vergleichen. Nicht mit anderen Menschen, nicht mit dem früheren Ich.»
Neil sagt: «Jasmines Erkrankung hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Eigentlich ist das alles längstens zu viel für mich, aber was soll ich machen? Die Situation ist, wie sie ist, und wir müssen schauen, wie wir mit ihr umgehen.»
Macht mich hässig
Ich kenne das. Ähnliche Situation.
Erst letztes Jahr habe ich mich Aussenstehenden geöffnet. Es ist und bleibt schwierig.