«Wie viele Jugendliche in ihrem Umfeld können ab dem 18. Altersjahr selbstständig leben und wohnen?», fragt Rolf Widmer, ehemaliger Direktor der Asylorganisation Zürich, an einer Medienkonferenz des unabhängigen Netzwerks MNA am Donnerstag im Debattierhaus «Karl der Grosse».
Das Netzwerk, bestehend aus Expertinnen und Politikern, geht davon aus, dass die wenigsten Schweizer Jugendlichen ab 18 selbstständig sind. Es fordert darum, dass MNAs (mineurs non accompagnés, geflüchtete Minderjährige, die alleine in die Schweiz gekommen sind) auch nach 18 von Bezugs- und Betreuungspersonen begleitet werden – bis sie ihre Selbstständigkeit und nicht nur die Volljährigkeit erreicht haben.
Widmer sagt: «Mit 18 ist nicht Schluss. Wir dürfen junge Menschen nicht ab Alter 18 in den luftleeren Raum fallen lassen, sondern sollten sie durch eine durchgehende Begleitung in ein eigenverantwortliches Leben gleiten lassen.»
Auch sollen Grossheimstrukturen nicht mehr weiterverfolgt werden. Stattdessen fordert das Netzwerk, dass im Kanton Zürich mehrere regionale Tageszentren für 40 Jugendliche entstehen, wo sie in kleinen Wohngruppen von maximal zehn Leuten untergebracht werden.
Die Forderungen fussen auf der Überlegung, dass minderjährige Geflüchtete in erster Linie Kinder und Jugendliche und nicht «nur» Asylsuchende sind. Deswegen fordert das Netzwerk auch, dass für die Betreuung und Unterbringung von MNAs dieselben Standards gelten wie für einheimische Kinder und Jugendliche.
Derzeit ist für Kinder und Jugendliche ohne Fluchterfahrung das kantonale Amt für Jugend- und Berufsberatung AJB und für jene mit Fluchterfahrung das kantonale Sozialamt zuständig. Für das Netzwerk ist dieses «Parallelsystem» nicht tragbar.
Es fordert darum, dass die Unterbringung und Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in die Angebotsplanung der Kinder- und Jugendhilfe des AJB aufgenommen wird.
Sandra Rumpel betreut als Psychotherapeutin pro Jahr 80 unbegleitet geflüchtete Kinder und Jugendliche im Raum Zürich und macht sich «grosse Sorgen um den Kinder- und Jugendschutz».
Bis zu 75 Prozent von ihnen würden unter einer posttraumatischen Belastungs-, Entwicklungstrauma-, Angst- oder Depressionsstörung leiden. Viele wiesen Entwicklungsverzögerungen und eine erhöhte Suizidalität auf. Sie seien in «unruhigen und überfüllten» Grossheimstrukturen untergebracht, meist ohne erwachsene Betreuungspersonen, die ihnen verbindlich und verlässlich beistehen.
Rumpel sagt: «Alle Jugendliche, unabhängig davon, wo sie geboren wurden, durchlaufen zwischen dem 13. und 25. Lebensjahr eine besonders sensible und lebenslänglich prägende Entwicklungsphase, darum brauchen sie ein entwicklungsförderndes und langfristig stabiles Umfeld mit tragenden Beziehungen.» In Grossheimstrukturen sei dies nicht gewährleistet.
Als Negativbeispiel wurde das MNA-Zentrum Lilienberg in Affoltern am Albis aufgeführt. Im März 2022 ging eine Gruppe von ehemaligen und aktuellen Mitarbeitende der Asylorganisation Zürich (AOZ) an die Öffentlichkeit und berichtete über Missstände im Zentrum Lilienberg.
Der Kanton ordnete daraufhin eine externe Untersuchung bei der Schiess AG an, die die geschilderten Missstände bestätigte – darunter auch die akute Gefährdung der Jugendlichen – und unter anderem forderte, dass die Belegung reduziert und der Betreuungsschlüssel generell verbessert wird.
Die Belegung wurde bis dato nicht geändert. Stand heute leben nach wie vor 90 Jugendliche in diesem Zentrum.
Jana Lynch ist Sozialpädagogin und hat in der Medienkonferenz ein Statement eines geflüchteten Jugendlichen vorgelesen, der 29 Tage im Zentrum Lilienberg verbrachte.
Er erinnert sich, sich in dieser Zeit gestresst und alleine gefühlt zu haben. Zu dem Zeitpunkt lebten nach seinen Aussagen rund 75 Jugendliche dort, die durch jeweils vier Betreuungspersonen betreut wurden.
In dem Monat, in dem er da war, habe er nur ein einziges Gespräch mit seiner Betreuungsperson gehabt. Er sagt: «Mit 17 Jahren braucht man so viel Unterstützung, hat man so viele Fragen, wenn man so neu in der Schweiz ist. Aber sie hatten keine Zeit für uns. Wenn ich damals viel Unterstützung bekommen hätte, würde es mir jetzt besser gehen.»
Heute lebt er in einem betreuten Wohnheim, wo der Übergang von Minderjährigkeit zu Volljährigkeit gewährleistet ist. «Dort ist es hundertmal, nein, sogar tausendmal besser!»
Im Wohnheim werde er, so lässt er sich zitieren, auch als Volljähriger weiter unterstützt. Er dürfe dort so lange bleiben, bis er selbstständig sei und gehen wolle. «Aber es gibt keine fixe Zeit.»
Rahel Castelli hat als Sozialarbeiterin im Zentrum Lilienberg gearbeitet und sagt: «Die Situation ist nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Betreuungspersonen nicht tragbar.» Im Lilienberg sei die Quote von Krankheitsausfällen dreimal höher als der Durchschnitt in der Branche. Dies hält auch der Bericht der Schiess AG fest.
Castelli sagt: «Lilienberg ist ein Unort. Ein Ort der Enge und der Isolation, ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche sich selbst überlassen werden und deshalb das Recht des Stärkeren gilt. Das MNA-Zentrum Lilienberg gehört meiner Meinung nach gänzlich geschlossen und Grossheimstrukturen grundsätzlich verboten.»
Die Grossunterkunft der Organisation für Regie- und Spezialaufträge (ORS) in der alten Polizeikaserne beim Bahnhof Zürich habe ähnliche Probleme, sagt Walter Angst, Zürcher Gemeinderat von der Alternativen Liste.
Er sagt: «Von den Mitarbeitenden der ORS kommen dieselben Signale wie von denen der AOZ. Es ist nicht die Frage, ob AOZ oder ORS, es ist eine Frage, ob man Verantwortung übernehmen will oder ob man Verwaltung von Jugendlichen ins Zentrum setzen will.»
Die Forderungen des Netzwerkes haben einen zeitlichen Kontext: Der laufende Unterbringungsvertrag für MNAs im Kanton Zürich läuft Ende Februar 2024 aus.
Was bisher über die Bedingungen für künftige Bewerbungen bekannt ist, weckt in Fachkreisen die Bedenken, dass der von ihnen geforderte Neuanfang nicht möglich sein und weiter gegen die Kinderrechtskonvention verstossen werden wird.
Walter Angst sagt: «Wir wissen, dass es nicht möglich sein wird, auf den 1. März 2024 alles auf den Kopf zu stellen. Wir meinen aber, dass man die Empfehlungen der Fachpersonen umsetzen muss. Wenn man das nicht macht, dann wird die Frage wirklich ernsthaft gestellt werden müssen, ob eine Klage zur Verletzung der Kinderrechtskonvention eingereicht werden muss.»
Im März 2023 werden im Kanton Zürich über 500 minderjährige Asylsuchende betreut. Zum Vergleich: Im Rekordjahr 2017 wurden über das ganze Jahr hinweg weit weniger betreut. Diese Zahl dürfte im Verlauf des Jahres weiter ansteigen.