New York, Paris und Lenzerheide: Gemein ist diesen Orten nicht nur ihre Beliebtheit bei Touristen, sondern auch, dass der öffentliche Verkehr an sieben Tagen in der Woche während 24 Stunden verkehrt - oder zumindest fast. Seit einem Monat sind in der Region Lenzerheide-Albula als Premiere in der Deutschschweiz auch unter der Woche Nachtbusse unterwegs.
Kleinbusse von Postauto fahren bis etwa 4 Uhr morgens in den Gemeinden rund um Lenzerheide und Tiefencastel. Sie tun das nach einem festen Fahrplan, Passagiere müssen aber die Fahrten in einer App buchen, sonst kommt der Bus nicht, um Leerfahrten zu vermeiden. Eine Reservation ist auch kurzfristig möglich. Empfohlen wird, die Fahrt mindestens eine Stunde im Voraus zu buchen.
Für eine Fahrt braucht es ein normales ÖV-Ticket. Ein Zuschlag wird nicht erhoben. Bis zum Ende der Wintersaison am 14. April wird das Nachtnetz unter der Woche angeboten, danach nur am Wochenende.
Für eine aussagekräftige Bilanz sei es noch zu früh, sagt Thierry Müller, der Leiter öffentlicher Verkehr beim Kanton Graubünden. Mit den ersten Zahlen sei er aber «sehr zufrieden»: «Wir konnten schon erste Stammkunden gewinnen, was wir als gutes Zeichen deuten».
Die Kundengruppen seien vielfältig. «Das sind Touristen, die einen Gastronomiebetrieb oder Freunde innerhalb der Destination besuchen. Es sind aber auch Jugendliche aus der Region oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der lokalen Betriebe.»
Ziel sei es, das Angebot längerfristig anzubieten. Voraussetzung dafür sei, dass es genutzt werde. «Die ersten Signale zeigen in die richtige Richtung», sagt Müller.
In eine ähnliche Richtung gehen könnte es in Zürich. Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV), der den ÖV im Kanton plant und finanziert, führt derzeit Arbeiten zur Frage durch, ob ein Nachtnetz an einzelnen oder allen Wochentagen funktionieren könnte und wie es ausgestaltet sein müsste. Das bestätigt ZVV-Sprecher Thomas Kellenberger. Es lägen noch keine Zwischen- oder Endergebnisse vor.
Als grösste Stadt der Schweiz wäre Zürich prädestiniert – etwa, weil es dort auch unter der Woche ein Nachtleben gibt, dank der über 60'000 Studierenden an den Hochschulen in der Stadt und des Flughafens, der schon frühmorgens Verkehr generiert.
Anderswo gibt es keine solchen Pläne, wie eine Umfrage von CH Media zeigt. Der Verkehrsverbund Luzern sieht in einem Nachtnetz unter der Woche kein Potenzial. Carlo Degelo, der Leiter der Abteilung Verkehr beim Kanton Aargau, sagt, man habe ein gut funktionierendes Nachtnetz am Wochenende. Insbesondere im ländlichen Raum seien aber viele Angebote eher schwach ausgelastet und hätten einen tiefen Kostendeckungsgrad: «Wir sehen daher kein Potenzial für ein flächendeckendes Nachtangebot unter der Woche.»
Christian Aebi, der Vorsteher des Berner Amt für öffentlichen Verkehr, sagt, Studien und Versuche in anderen Regionen verfolge sein Amt aufmerksam. Überlegungen für ein Nachtnetz unter der Woche gebe es im Kanton Bern aber nicht. Vor zwei Jahren wurden dort Nachtbusse, die in der Nacht von Donnerstag auf Freitag verkehrten, wieder eingestellt.
Das grösste Potenzial beim Verkehr in andere Regionen sehe er bei Städteverbindungen, sagt Aebi. Diese seien aber Bestandteil des Fernverkehrs und damit keine Angelegenheit des Kantons Bern. Die SBB winken ab: Geplant sei das nicht – wegen der tiefen Nachfrage, aber auch, weil in der Nacht oft Bauarbeiten mit Streckensperrungen durchgeführt würden.
Auch in der Ostschweiz dürfte es nicht so schnell einen ÖV-Dauerbetrieb geben. Patrick Ruggli, der Leiter des St.Galler Amts für öffentlichen Verkehr, sagt, aufgrund der Erfahrungen und vorliegender Nachfragedaten werde das Potenzial als «sehr gering» eingeschätzt. Der Kostendeckungsgrad, den das Gesetz für ein solches Angebot derzeit vorgibt, wäre kaum zu erreichen.
Zu einem ähnlichen Schluss kam der Kanton Basel-Stadt, der vor kurzem untersucht hat, ob das Nachtnetz auf die Nacht von Donnerstag auf Freitag ausgedehnt werden sollte. Nicole Ryf, Sprecherin des Bau- und Verkehrsdepartement, sagt, das Potenzial gegenüber dem Wochenende sei als eher mässig eingeschätzt worden: «Der Kostendeckungsgrad wäre tief.» Auch der Betrieb eines Rufbus-Angebots in der Nacht würde «unverhältnismässig hohe Kosten» nach sich ziehen.
Immerhin wollen die meisten Kantone ihr Nachtnetz an den Wochenenden ausbauen. Per Dezember 2025 sollen in der Stadt Zürich frühmorgens die Lücken zum Tagnetz geschlossen werden, die es auf einzelnen Linien noch gibt. Das Zürcher Netz wurde zuletzt per Dezember 2021 stark ausgebaut. In der Stadt Zürich gibt es seither auf den Hauptlinien zwischen 1 und etwa 4.15 Uhr einen Viertelstundentakt der Nachtbusse, zwischen Zürich und Winterthur verkehrt alle 30 Minuten eine Nacht-S-Bahn.
Das macht sich in den Passagierzahlen bemerkbar: Per Mai 2022 waren diese in der Stadt Zürich um 67 Prozent höher als 2019, wobei auch die Aufhebung des Nachtzuschlags per Ende 2020 half. In den nächsten zwei Jahren will der ZVV nun eine neue Nacht-S-Bahn SN11 einführen, die von Zürich via Heitersberg nach Aarau fahren soll. Zusammen mit der bereits existierenden SN1, die von Winterthur via Zürich und Baden nach Aarau verkehrt, könnte der Halbstundentakt im Limmattal angeboten werden. Die SN1 soll zudem von Aarau nach Olten verlängert werden. Definitiv entschieden ist das noch nicht.
Auch der Kanton Bern überprüft derzeit das bestehende Nachtangebot an Wochenenden, und St.Gallen plant eine Anpassung des Nachtnetzes für das Jahr 2025.
Mit dem 24-Stunden-Betrieb unter der Woche bleibt die Lenzerheide fürs Erste aber alleine. Ob die Nachfrage dort höher ist, als sie anderswo wäre, bleibt offen. Thierry Müller vom Kanton Graubünden gibt aber noch etwas zu bedenken: Wer das Nachtnetz unter der Woche nutzt, wird oft auch tagsüber zum ÖV-Kunden.
Gemäss Auswertungen von Mobilfunkdaten seien viele Touristen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Betriebe in der Region Lenzerheide auch nachts unterwegs und benötigten für diese Fahrten bisher ein Auto. «Diese Kunden sind neu auch tagsüber mit unserem ÖV unterwegs, weil sie damit komplett auf das Auto verzichten können», sagt er. Zudem könne der öffentliche Verkehr damit auch einen wichtigen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten. «Wenn er eine echte Alternative zum privaten Auto sein will, müssen wir möglichst viele Bedürfnisse damit abdecken», sagt Müller. (aargauerzeitung.ch)
Aber irgendwie finde ich die Reaktionen schon sehr inkonsequent. Wenn es darum geht, dass Läden länger offen haben können, macht man ein Riesendrama wegen der "unzumutbaren" unregelmässigen Arbeitszeiten. Aber bei 24h-ÖV finden es die gleichen Leute dann plötzlich super toll. Das zeigt doch wunderbar, wie völlig übertrieben und emotional anstatt rational die ganze Ladenöffnungszeit-Diskussion ist. 😕