
Die Ostschweizer LGBTQ+-Szene wird von einem Skandal erschüttert. (Symbolbild)Bild: keystone
Zwei Leiter eines Ostschweizer LGBTQ+-Treffs für Jugendliche gingen mehrere sexuelle Kontakte mit ihren Besuchern ein. Die Rede ist von Machtmissbrauch und toxischen Beziehungen. Der Fall in 7 Punkten.
16.04.2024, 05:5517.04.2024, 02:23
Darum geht es
Es sind schwere Vorwürfe, die im Raum stehen gegen zwei Vorstands- und Gründungsmitglieder des Ostschweizer LGBTQ+-Vereins «Sozialwerk.LGBT+». Sie sollen mehrfach sexuelle Kontakte zu minderjährigen Jugendlichen, die im Verein aktiv waren, gepflegt haben, wie eine Recherche des Tages-Anzeiger zeigt.
Der Verein ist in den Kantonen St.Gallen (Buchs) und Graubünden (Chur) aktiv und betreibt dort jeweils einen Jugendtreff für queere junge Menschen. Ein Angebot, das in der eher ländlich-konservativen Gegend wichtig ist, da queere Personen dort oft mit Ablehnung konfrontiert sind, wie auch mehrere Jugendliche gegenüber der Zeitung angaben.
Dementsprechend wurde der Verein von den Kantonen Graubünden und St.Gallen sowie der Stadt Chur und verschiedenen Stiftungen finanziell unterstützt. Der LGBTQ+-Treff galt als – zumindest vordergründig (siehe letzter Punkt) – als Vorzeigeprojekt.
Anlaufstellen für Opfer von Mobbing im Internet
Falls du Opfer von Mobbing im Internet bist oder jemanden kennst, der oder die Opfer von Mobbing im Internet sein könnte, bieten sich folgende erste Anlaufstellen an: Die Dargebotene Hand oder die Fachstelle Mobbing. Sind Jugendliche oder Kinder von Mobbing im Internet betroffen, gibt es die Möglichkeit, sich an Pro Juventute zu wenden oder die Elternberatung.
Die Vorwürfe gegen die Gründer
Doch dieses Image erhält nun arge Kratzer. Die Treffs sind bis auf Weiteres geschlossen, wie aus der Homepage hervorgeht. Offiziell wegen «personellem Engpass». Doch die Schliessung dürfte vielmehr auf die schweren Vorwürfe gegen die zwei Gründungsmitglieder, ein Ehepaar, zurückzuführen sein.
Die Männer, Bernd T. und Andreas T. (Namen geändert), beide Mitte 40, sollen sexuelle Kontakte zu Jugendlichen gepflegt haben, die im Verein Zuflucht gesucht haben. Dokumentiert sind mindestens zwei Kontakte von Bernd T. zu zwei 17-Jährigen. Mit einem davon befanden er und sein Mann Andreas T. sich für eine Weile in einer Dreierbeziehung (siehe nächster Punkt).
Im Raum stehen insbesondere die Vorwürfe von Machtmissbrauch, Unprofessionalität und moralisch verwerflichem Verhalten. Ob es sich um strafrechtlich relevante Punkte handelt, ist noch nicht klar, ein Verfahren läuft.
Ein ehemaliger Vereinsvorstand, der die beiden Männer zusammen mit einem anderen Vorstandsmitglied angezeigt hat, sagt gegenüber dem «Tages-Anzeiger»:
«Das Verhalten der beiden ist für uns ein totaler Machtmissbrauch, das spürten auch die Jugendlichen. Ich habe das immer wieder zur Sprache gebracht.»
Und weiter:
«Es ist wichtig, bei solch einem Verhalten nicht wegzuschauen.»
Die toxische Dreiecksbeziehung
Besonders gut dokumentiert ist die Dreiecksbeziehung zwischen dem Ehepaar und einem 17-Jährigen. Der Jugendliche aus einer ländlichen Gegend habe wie viele andere im Jugendtreff Mobbing und Ausgrenzung aufgrund seiner sexuellen Orientierung erfahren. Er fand Zuflucht im Jugendtreff, wo er neue Hoffnung schöpfte und vorerst eine gute Zeit verbrachte.
Doch der Jugendliche nahm auch Hilfsprogramme des Vereins in Anspruch, die unter anderem von Bernd T. geleitet wurden. Dort kam es zu intimen Kontakten, die schliesslich in einer Art Beziehung mündeten. SMS, Sprachnachrichten und andere Aufnahmen belegen, dass eine emotionale Abhängigkeit des Jugendlichen zu Bernd T. bestand. So schrieb der 17-Jährige auf einer Onlineplattform:
«Seit wir uns kennengelernt haben, waren wir sehr gut befreundet. Ich war extrem glücklich mit ihm zusammen. Er ist (war) mein perfekter Mann. (...) Es gab nur ein grosses Problem: Er war bereits verheiratet mit seinem Ehemann.»
Dieses Problem versuchte Bernd T. offenbar zu lösen, indem er den jungen Mann zu einer Dreiecksbeziehung mit seinem Ehemann Andreas T. bewog. Im Sommer 2023 zog der mittlerweile 18-Jährige zum Ehepaar. Er verbrachte auch Ferien mit ihnen. Doch die Beziehung wurde für ihn mehr und mehr zur Belastung. Auf der Onlineplattform schrieb er:
«Ich bin in einer toxischen, polyamourösen Beziehung, und es zerreisst mich.»
Er erklärte auch, dass er sich zur Dreiecksbeziehung bewegen liess, weil er unbedingt mit Bernd T. zusammen sein wollte. Dabei habe er dessen Ehemann Andreas T. gar nicht gemocht.
Fragwürdige Rechtfertigungsversuche
Die Dreiecksbeziehung wurde auch im Verein thematisiert. Die Rede ist von heftigen Diskussionen. Die Situation eskalierte, als herauskam, dass Bernd T. mit einem weiteren minderjährigen Jugendlichen in seinem Sitzungszimmer ebenfalls intimen Kontakt hatte.
Daraufhin informierte der damalige Präsident des Vereins weitere Mitglieder über die Situation. Andreas T. soll als Reaktion darauf seine Kündigung eingereicht und lange Textnachrichten versandt haben, die das Verhalten des Ehepaars rechtfertigen sollten.
Diese muten fragwürdig an. Was wäre passiert, wenn er einen sexuellen Kontakt mit einem der Jugendlichen aus seinem Verein in einem Dampfbad gehabt hätte, ohne ihn zu erkennen, fragt er unter anderem. Da lasse man ja sogar schon 16-jährige Jugendliche herein. Und weiter: «In der offenen Kinder- und Jugendarbeit war es lange Zeit üblich, dass auch Jugendarbeitende sexuelle Kontakte zu Jugendlichen hatten.» In Berlin habe man bis in die Neunzigerjahre Strassenkinder an pädophile Straftäter vermittelt, da nur diese Kinder hätten lieben können.
Andreas T. zog die Kündigung einige Tage später wieder zurück. Ob er noch im Verein tätig ist, ist nicht bekannt. Seine Person bietet aber darüber hinaus weitere Kontroversen. So soll der Jugendarbeiter auch bei früheren Anstellungen in Graubünden ein auffallend hohes Augenmerk auf sexuelle Themen gelegt haben. Teils soll es zu Reklamationen von Jugendlichen gekommen sein, da sie sich unwohl fühlten. Eine Person aus dem Vereinsumfeld sagt gegenüber dem «Tages-Anzeiger»:
«Es drehte sich alles nur um Sex. Manchmal war es scherzhaft, manchmal nicht.»
Auffallend ist weiter, dass viele der Quellen anonym bleiben wollen – aus Angst vor Diskriminierung, aber auch vor dem Ehepaar.
Das sagen die Beschuldigten
Bernd und Andreas T. wollten sich auf mehrere Anfragen des «Tages-Anzeigers» hin nicht zu den Vorwürfen äussern. Zum laufenden Strafverfahren antworteten sie schriftlich:
«Die gegen uns erhobenen, unberechtigten Vorwürfe werden wir im Strafverfahren entgegnen und nicht in den Medien.»
Das Verfahren
Ob die Handlungen der beiden Vorstandsmitglieder strafrechtliche Konsequenzen haben, ist noch nicht klar. Die Staatsanwaltschaft St.Gallen führt derzeit ein Strafverfahren gegen die beiden durch, weil der Verdacht auf strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität im Raum steht. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Eindeutiger als die rechtliche Fehlbarkeit der beiden Vorstandsmitglieder ist die moralische. Experten äussern gegenüber dem «Tages-Anzeiger» unisono, dass es sich um «unprofessionelles» und «hochproblematisches» Verhalten handelt. So sagt die Therapeutin und Co-Präsidentin des Fachverbands für Sexologie Schweiz, Petra Wohlwend, beispielsweise zur Dreiecksbeziehung mit dem 17-Jährigen:
«Die Schutzbedürftigkeit ist in diesem Fall riesig und entsprechend auch das Abhängigkeitsverhältnis. Hier sexuell aktiv zu werden, ist ein No-Go.»
Die Reaktionen
Als Reaktion auf die Vorwürfe sind zahlreiche Unterstützer des Vereins zu diesem auf Distanz gegangen. Die Stadt Chur forderte den Verein beispielsweise auf, Bernd und Andreas T. per sofort freizustellen, bis die Vorwürfe geklärt sind. Ob dies mittlerweile geschehen ist, ist nicht bekannt. Eine Stellungnahme des Vereins gibt es nicht.
Auch mehrere LGBTQ+-Dachverbände haben sich vom Verein «Sozialwerk.LGBT+» distanziert. Unter anderem Pink Cross, das Transgender Network Switzerland und die Lesbenorganisation Schweiz. Sie haben die Mitgliedschaften des Vereins in ihren Dachverbänden gekündigt.
Roman Heggli, Geschäftsführer von Pink Cross, erklärt zudem gegenüber watson, dass der Verein schon vor Bekanntwerden der aktuellen Vorwürfe in Fachkreisen kritisch beurteilt wurde – unter anderem wegen der «fehlenden Professionalität ohne tatsächliche Trennung zwischen Vorstand und operativ tätigen Personen.»
(con)
Wow... noch nicht erlebt, dass sich jemand so krass um Kopf und Kragen redet.