Hier ein Mittelalterspektakel, da ein Burgfest, dort ein Märchenevent: Die Schweiz entdeckt das Mittelalter neu – als Freizeitvergnügen. Landauf, landab finden das ganze Jahr hindurch immer mehr Veranstaltungen statt, vom bescheidenen Dorfmarkt bis zum aufwendigen Ritterturnier.
Einen Mittelalterboom gebe es bereits seit einiger Zeit in der Schweiz und – länger schon – in Deutschland, sagt Werner Meyer, emeritierter Basler Geschichtsprofessor und Mittelalterspezialist, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA.
«Ich habe den Eindruck, es geht um eine Art Gegenwelt», sagt Meyer, «etwas unserer Zeit diametral Entgegenstehendes.» Schon früher habe es solche Bewegungen gegeben, vor allem im 19. Jahrhundert, in der Romantik. Auch damals sei es eine Art Flucht gewesen.
Meyer erklärt den Mittelalterboom mit einer «Sehnsucht nach etwas Verlorenem, Unverfälschtem, nach Wertvorstellungen, die heute nicht mehr lebbar sind», nach einer einfachen Lebensform.
«Da kann man für einmal eine Suppe im Kessel über offenem Feuer kochen, da ist es erlaubt, mit den Händen zu essen und die Knochen wegzuschmeissen, da darf man bei Kampfspielen aufeinander eindreschen - mit den nötigen Schutzvorkehrungen notabene.» Alles «Widersprüche zu unserem Verhaltenskodex».
Das, meine man dann, sei Mittelalter, sagt der 76-Jährige, der in Fachkreisen respektvoll «Burgenmeyer» genannt wird. Dass dies für Kinder und auch für viele Erwachsene sehr attraktiv sei, könne man verstehen.
Für Peter Suter, Mitorganisator des Luzerner Mittelaltermarktes, der kürzlich stattfand, ist klar: «Die Leute träumen gern, erleben gern Geschichte».
All die Filme, Bücher und Spiele wie Herr der Ringe, Tintenblut und dergleichen liessen das Mittelalter aufleben. Am Mittelaltermarkt sollten die Besucher die Möglichkeit haben, «abzutauchen in ihre Fantasiewelt, in die Welt des Mittelalters».
Matthias Knuser, aktiv in der 2009 gegründeten Mittelaltergruppe «Roter Hufen», weist auf die «Magnetwirkung» solcher Anlässe gerade für Familien hin: «Ein Holzschwert ist schnell gebastelt, und wer wollte als Kind nicht immer schon Ritter sein?»
Historiker Meyer beobachtet die Mittelalterbegeisterung mit gemischten Gefühlen. Zwar gebe es ein gewisses «Bemühen um realienkundliche Korrektheit», räumt er ein. Heute verfüge man über viel mehr Kenntnisse des damaligen Lebens, als beim Boom im 19. Jahrhundert. Es werde aber jeweils «äusserst selektiv das herausgepflückt, was gerade passt». Das verfälsche die Realität.
Schlösser und Burgen bieten etwa Mittelalterferien an – «die sanitären Anlagen entsprechen mit Sicherheit modernem Komfort», so Meyer. Und zwei, drei Nächte in einem mittelalterlichen Himmelbett zu schlafen, sei gewiss romantisch – aber etwas ganz anderes, als dies einen ganzen eisigen Winter lang zu tun, «bis die Läuse dich auffressen».
Auch die Aktiven sind sich dieser Selektion bewusst. Ein Mittelalter-Anlass sei «immer ein Kompromiss», sagt etwa Knuser, «Wir sind alle Leute des 21. Jahrhunderts». Einzelne herausgegriffene Aspekte könne man durchaus als Ganzes darstellen. Vor allem sei es «die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu zeigen».
Man bemühe sich sehr um Authentizität. «Wir wollen den Besuchern ja kein falsches Bild vermitteln». Wenn man von den historischen Vorgaben abweichen müsse, deklariere und begründe man das. Denn «Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen ist das Wichtigste», sagt Knuser.
Suter stört sich nicht am Einwand des Selektiven: «Was ist wahr – die wirklich belegten Fakten und Daten, oder das Gefühl?». Geschichte sei oft nur Siegergeschichte, das Leben und Wirken des einfachen Volkes sei spärlich beschrieben.
Was beide Aktiven vor allem verhindern wollen, ist die Kommerzialisierung der Mittelalterveranstaltungen. Deren Zahl hat laut Knuser enorm zugenommen. Waren es vor ein paar Jahren noch einzelne übers Jahr verteilte Anlässe, sei heute jedes Wochenende belegt, teils gleich mit mehreren grossen Veranstaltungen. (sda)