Solothurn versinkt jetzt im Schnee und Olten auch, und im Flügelrad in Olten, dieser Spunte in dem kleinen Haus mit rotem Dach, das man vom Zug aus sieht, muss es jetzt grad noch ein paar Grad gemütlicher sein. Bei Yolanda und Dolores, den blonden Zwillingsschwestern, die hier noch Serviertöchter heissen. Und beim Stammgast, der hier immer isst und sonst im ersten Stock wohnt, von wo aus er auf die Geleise schaut. Die sich winden und entwinden. Wenn er nicht selbst in Zügen sitzt. «Mis läbe isch fahre und mängisch fahrts mer ii», sagt er.
Der Stammgast heisst Pedro, ist erstens Schriftsteller und zweitens Mitbesitzer des Flügelrads. Vor gut einem Jahr war er schon an den Solothurner Filmtagen. Als Erzeuger des Romans «Der Goalie bin ig», verfilmt von Sabine Boss und so oft ausgezeichnet, wie sich das für einen Film gerade noch gehört, zuletzt gar mit einem richtigen People-Preis, dem SwissAward.
Jetzt kommt Pedro Lenz also nach Solothurn zurück, gewissermassen mit sich selbst im Gepäck. Beziehungsweise mit der Erkenntnis von Arthur Rimbaud: «Ich ist ein anderer.» Denn eigentlich ist Pedro Lenz der Protagonist des Dokumentarfilms «Mitten ins Land» (Regie: Norbert Wiedmer). Aber noch eigentlicher holt er – mit Ausnahme von Stargast Cédric Wermuth – Menschen aus dem Oltener Off ins Rampenlicht: die Serviertöchter, die Lokomotivführerin Jeannine, den Marcel, der auf der Sondermülldeponie Kölliken arbeitet, und den Volkan, der mit Nachnamen Inler heisst.
Pedro Lenz ist Fussballfan und Fussballspieler, und Volkan Inler, 35, ist der ältere Bruder von Gökhan Inler. Gökhan hat das Fussballspielen von Volkan gelernt. Gökhan kam bereits in Olten zur Welt, Volkan noch in Istanbul, und während Gökhan heute als Nationalspieler ein Millionen-Einkommen hat, arbeitet Volkan bei der Oltener Müllabfuhr. So sind sie manchmal, die Weichenstellungen des Lebens. Neben Marcel ist Volkan also der zweite Müllmann in diesem Film. Ein fürsorglicher Entsorger. Ein glücklicher Mann, ein brauchbarer Mann. Das Olten der Pedros und Volkans ist gut.
Als Film ist «Mitten ins Land» kein Ereignis, aber als Soundtrack. Denn fast immer unterlegt Pedro Lenz die Gänge und Fahrten aus und nach Olten mit seiner Wortspur, und der hört man einfach sehr, sehr gerne zu. Ein Film als Hörbuch der Herzen. Auch das geht. Wahrscheinlich gewinnt er in Solothurn den Publikumspreis.
Gross gewonnen hat am Wochenende «Chrieg», der erste Spielfilm von Simon Jaquemet, 36. Den grossen Max Ophüls Preis und den Preis für den besten Nachwuchsdarsteller am Ophüls-Festival in Saarbrücken. Wo übrigens auch der Preis für den «relevanten Film» an Andrea Stakas «Cure» ging. Und die Preise der saarländischen Ministerpräsidentin und der ökumenischen Jury an «Driften» von Karin Patwa. Und es gab eine lobende Erwähnung für den Schweizer Kurzfilm «Discipline» von Christophe M. Saber. Sechs Auszeichnungen für die Schweiz an einem Festival! Das ist eine verdammte Sensation!
So wie auch «Chrieg» eine verdammte Sensation ist. Die zweite Stichflamme, die neben Stina Werenfels' «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» weit über die 50. Solothurner Filmtage hinaus sichtbar sein wird. Ganz grob – wir werden zum Kinostart im März darauf zurück kommen – gehts um Jugengewalt. Die nicht gebrochen wird, sondern sich zu einem Instrument der Identitätsfindung zurechtschmieden lässt.
Es geschieht dies einem Härtecamp in den Bergen, wo vier Jugendliche den alten Mann, der sie eigentlich erziehen sollte, entmachten. Drei Jungs und das Mädchen Ali, das als Junge lebt. Einer davon ist Matteo (der bereits mehrfach preisgekrönte Benjamin Lutzke), ein Wohlstandsverwahrloster aus dem Einfamilienhaus, der seine Eltern mit einem Callgirl schockt und sein Baby-Geschwisterchen fast zum Krüppel macht. In den Bergen wird er misshandelt, gedrillt und schliesslich respektiert. Und dann beginnt die Höllenfahrt der Rache. Die doch eigentlich nichts will ausser Gerechtigkeit.
«Chrieg» its ultrahart und rabiat. «Chrieg» ist laut. Und «Chrieg» zeigt doch in alledem ganz zart das Kaleidoskop der Verletzlichkeit, in dem so ein pubertierender Mensch gefangen ist. «Chrieg» ist Stadt und Land, Schweiz und Migration, Liebe, Terror, Techno. Eine grosse Geschichte in grossen Bildern. Ein rasender und rasend guter Film. Und der Schnee über Solothurn, der tobte am Montagnachmittag erst so richtig los, als die Vorstellung von «Chrieg» langsam zu Ende ging. Die Stichflamme hätte sonst jede einzelne Flocke gefressen.
«Mitten ins Land» läuft ab 5. Februar im Kino.