Plötzlich gibt es die Möglichkeit, dass «Der Kreis» einen Oscar gewinnen könnte. Also, ganz theoretisch. Jedenfalls steht er fürs erste auf der Shortlist für jenen Film, den die Schweiz ins Rennen um eine Oscar-Nomination schickt. Über 70 Festivals und Filmverkäufe in 16 Länder, darunter Deutschland, England, Irland, Polen, Thailand, die USA, Kanada, Frankreich, machen selbstbewusst. Und der Gewinn von zwei Auszeichnungen an der Berlinale im Februar. Und eine ausverkaufte Vorstellung im Castro Theatre mit 1400 Plätzen in San Francisco. Zwei Blocks neben dem Haus, von dem aus Harvey Milk in den 70er-Jahren seine Wahlkämpfe führte und die queer Community mobilisierte.
Diese Vorstellung in San Francisco, sagt der Zürcher Regisseur Stefan Haupt, sei etwas vom Verrücktesten, was er je erlebt habe. Der Szenenapplaus, der Jubel, der Triumph eines Schweizer Films, der aus Geldmangel kein reiner Spielfilm werden konnte, sondern in den Fragmenten einer Doku-Fiction hängen bleiben musste. In äusserst berührenden Fragmenten allerdings.
All das ist geschehen, bevor «Der Kreis» jetzt in der Schweiz startet. Die Geschichte einer Liebe. Und die Geschichte einer Zeitschrift. Aber auch eine Geschichte über Menschenrechte in der Schweiz, in Zürich. Ein Stück Schwulengeschichte.
Stefan Haupt ist nicht schwul, die meisten seiner Schauspieler sind nicht schwul, aber die Vorlage zu «Der Kreis», die ist sehr schwul: Ernst und Röbi, also Ernst Ostertag und Röbi Rapp, der Lehrer und der Travestiekünstler, seit 1956 so dermassen mit jeder Faser einander verfallen und zusammengewachsen, dass sie heute, im bereits höheren Alter, einer geblümelten Kaffeetasse und ihrem Unterteller gleichen, derart harmonisch, viele sagen auch: bieder, sind die beiden.
2003 liessen sie sich als erstes Paar im Zürcher Stadthaus in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft registrieren. Sie hatten nie etwas anderes gewollt als die gesellschaftlich anerkannte Normalität zu zweit. So hat sie auch Stefan Haupt kennen gelernt, ein schwuler Verwandter und ein paar schwule Freunde hatten ihm Ernst und Röbi als mögliches Filmsujet empfohlen, aber erst Jahre später, als ihm zwei Produzenten die Vorgeschichte von Ernst und Röbi auf den Tisch legten, begann er, sich wirklich für die beiden zu interessieren.
Für jene Jahre in den 50ern und 60ern, als in Zürich die berühmten Schwulenmorde stattfanden, nicht als epidemische Hetzjagd, relativiert Haupt, eher als individuell motivierte Verbrechen von jungen Strichern, die sich an ihren Freiern rächten. Aber so, wie die Morde in der Presse dargestellt wurden, und wie die Mörder vor Gericht davonkamen, war schon klar: Die Zürcher Gesellschaft hasste ihre Schwulen. Ein toter Schwuler war krimineller als sein Mörder. Und die Lebenden wurden in grossen Razzien von der Polizei verfolgt und erfasst.
Mittendrin: Der junge Französischlehrer Ernst (Matthias Hungerbühler), der bei seinen Vorgesetzten aneckt, weil er am Mädchengymnasium so gerne Existenzialismus unterrichten möchte, und der 18-jährige Coiffeur Röbi (der einnehmende Sven Schelker), die Eltern aus Deutschland eingewandert, ein hochsensibler Bub, dessen ebenso sensibler Vater viel zu früh verstarb. Und Röbis Mutter (Marianne Sägebrecht), die beschlossen hat, den Rest ihres Lebens ihrem Sohn zu widmen und ihm in allem beizustehen.
Der Rahmen, in dem sie sich verwirklichen können, bietet ihnen die Schwulenorganisation «Der Kreis» mit ihren Bällen samt internationalem Publikum– es gab damals einen berühmten Freitagabendflug der Lufthansa von Frankfurt nach Zürich, die sogenannte «Warmlufthansa» – und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. 2000 Abonnenten hatte der «Kreis» damals, 700 davon im Ausland. Auf Deutsch, Französisch und Englisch erschienen da Kurzgeschichten, Gedichte und Bilder, und weil die Schweizer Zensurbehörde von einst des Englischen kein bisschen mächtig war, waren die englischen Magazinbeiträge mit Abstand die pornographischsten.
Und über allen, über dem moderaten «Kreis»-Gründervater Karl Meier (Stephan Witschi), über dem radikal-intellektuellen Lederschwulen Felix (Anatole Taubman) oder dem zu härterem Sex neigenden Gian (Antoine Monot), strahlt und singt Röbi Rapp als transvestitischer Engel. Eine Erscheinung aus herzzerreissender Naivität und mondänem Glitzer, die den etwas hölzernen Kopfmenschen Ernst blendet.
Und als Ernst noch überlegt, ob ein Dreier mit Röbi und Felix vielleicht nicht doch spannender wäre als eine monogame Beziehung, da ist sich der jüngere Röbi längst sicher, dass es sich bei ihnen beiden um eine lebenslängliche Liebeshaft zu zweit handeln müsse. Doch dann geschehen die Zürcher Morde und die Selbstmorde von zwangsregistrierten und damit zwangsgeouteten Kollegen und die Angst, aber auch das subversive Selbstbewusstsein der Szene werden noch stärker.
Stefan Haupt gesteht, dass das mitreissende Heldentum seiner Protagonisten schon «ein klein wenig fiktional überhöht» sei. Doch als Zuschauer ist man dankbar, denn «Der Kreis» ist auch ein Krimi geworden, der genau so stattgefunden hat, gelegentlich unterbrochen durch die Kommentare eines alten Ehepaares. Und nur wer ganz genau hinschaut, entdeckt, dass der echte Röbi in diesen Szenen mal eine Dauerwelle, mal glattes Haar trägt, gedreht wurden diese Interviews nämlich über eineinhalb Jahre. Wenigstens stehen die Rosen neben dem Sofa verlässlich am gleichen Ort.
Erst 1968 kam mit den aus den Jugendunruhen heraus geborenen Zürcher Globuskrawallen eine Erleichterung über die Schwulenszene: die Polizei hatte endlich anderes zu tun. Und heute? Ist Zürich heute nicht eine Insel der Seligen mit einer lesbischen Stadtpräsidentin, die in einer Doppelhochzeit mit dem Hochbauvorsteher André Odermatt und seinem Partner ihre Lebensgefährtin ehelicht? Mit der Zurich Pride und dem Pink Apple Filmfestival und Conchita Wurst als frenetisch gefeiertem Gast? Ist heute nicht alles regenbogenfarbig wunderbar? Oder wie sieht Stefan Haupt, der plötzlich zu einer Gallionsfigur der Schwulenszene wurde, dies?
«Vor ein paar Tagen», sagt er, «besuchte mich die Leiterin des indonesischen Queer-Festivals. Sie wollte noch einmal richtig Luft holen, bevor das Festival beginnt. Und sie erzählte, wie sie von muslimischen Fundamentalisten bedroht wird, wie sie Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhält, wie sie plötzlich von Autos verfolgt wird und wie es heisst, die Kinos, in denen sie das Festival programmiert hat, würden abgefackelt. Und diese homophobe Tendenz nimmt doch gerade auf der ganzen Welt wieder zu.»
«Der Kreis» ist bei aller Tragik ein in seiner historischen Genauigkeit feiner und heiterer Film, einer, der das Überleben feiert, die unendliche Intensität der Liebe und den leisen, aber lebensrettenden Kitsch, der immer schon Röbis Element war. Anatole Taubman, dem Schweizer mit den internationalen Engagements, war das zu wenig: «Er sagte: Hey, dieses Drehbuch ist noch zu brav, das muss amerikanischer werden, mit richtig grossen Schlägereien und so. Doch ich war der Regisseur», sagt Haupt.
Und das Zürcher Niederdorf ist nun einmal nicht der Castro District in San Francisco oder Greenwich Village in New York. Das Theater Neumarkt, wo sich die Zürcher Szene damals traf, nicht die Stonewall Bar. Aber annähernd. Und deshalb ist es kein Wunder, dass «Der Kreis» bereits vor seinem Schweizer Start eine internationale Karriere hinter sich hat. Und ganz gewiss noch sehr viel vor sich.
«Der Kreis» läuft ab 11.9. in Zürich, Basel und Bern in den Lunchkinos, ab 18.9. regulär in den Schweizer Kinos.