Mit dem ersten Lockdown wurden die Treffen der Selbsthilfe-Gruppen verboten. Damit begann eine Zeit der Unsicherheit, des Wartens, des Ausprobierens – nicht nur für die Teilnehmenden eine Herausforderung, sondern auch für die Mitarbeitenden der Selbsthilfe-Zentren. Den Teilnehmenden fehlte plötzlich ein wichtiger sozialer Austauschort, während sich die Mitarbeitenden umgehend neue Alternativen überlegen mussten.
Hatte man sich vor der Pandemie noch nie überlegt, ein virtuelles Selbsthilfe-Angebot einzuführen? Sowohl Antonis Purnelis, Leiter des Selbsthilfezentrums Zürich Oberland, als auch Michelle Guggenbühl, Mitarbeiterin des Selbsthilfezentrums Zürich, verneinen. Das Bedürfnis sei von Teilnehmenden nie geäussert worden. Daniela Baumgartner von der Selbsthilfe Bern erzählt, dass sie sich bereits einmal überlegt hätten, für die Jungen ein virtuelles Angebot anzubieten. Mit Corona wurde dies schliesslich beschleunigt. Dennoch betraten sowohl die Mitarbeitenden wie auch die Teilnehmenden Neuland.
Nach einem Austausch mit anderen Selbsthilfezentren versandte Purnelis eine Rundmail an alle etablierten 80 Gruppen in seiner Region. Er schlug ihnen virtuelle Treffen über Zoom oder Skype vor und bot ihnen Unterstützung bei der Installation der Programme an. Nicht bei allen stiess der Vorschlag auf Begeisterung, erzählt er.
Wieso? Hat man in Isolation nicht umso mehr das Bedürfnis, sich mit anderen Menschen auszutauschen?, frage ich Purnelis. Doch, antwortet er. Das Bedürfnis nach sozialem Kontakt sei in den letzten Jahrzehnten ganz grundsätzlich gewachsen. Durch die zunehmende Individualisierung sowohl in der Arbeit wie auch im Privaten würden die Leute immer isolierter leben. In diesem Zusammenhang habe die Selbsthilfegruppe auch als physischer, sozialer Treffpunkt an Bedeutung gewonnen.
Doch nebst dem Bedürfnis nach dem Zusammensein mit Gleichgesinnten, steht natürlich auch der Austausch innerhalb der Selbsthilfegruppe im Fokus.
Dann spielte sich das ganze Leben plötzlich nur noch in den eigenen vier Wänden ab. Deshalb die Antwort vieler Teilnehmenden: «Durch die Home-Office-Pflicht verbringen wir sowieso schon den ganzen Tag vor dem Bildschirm, wir warten lieber, bis physische Treffen wieder möglich sind.»
Aber das treffe nicht auf alle zu, erläutert Purnelis weiter. Die einen wollten virtuelle Treffen, die anderen wollten lieber auf physische Treffen warten. Schlussendlich agiere jede Gruppe autonom und könne selber entscheiden, wie, wo und wann sie sich treffen wollen, erklärt Purnelis. Das Selbsthilfezentrum helfe vor allem bei der Gründung neuer Gruppen und begleite sie während den ersten Treffen, um ihnen die nötigen Instrumente mitzugeben.
Den jüngeren Teilnehmenden fiel die Umorientierung etwas leichter, viele hatten die dafür benötigten Programme bereits installiert. Aber auch ältere Teilnehmende nutzten die Möglichkeit, um während des Lockdowns im Austausch zu bleiben.
Wie Michelle Guggenbühl vom Selbsthilfezentrum Zürich erzählt, seien die Anfragen für Selbsthilfegruppen aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen leicht gestiegen: «Gewisse Thematiken haben sich durch die Massnahmen verstärkt, wie beispielsweise Symptome von psychischen Erkrankungen. Diese waren aber vor der Pandemie schon vorhanden.» Es seien auch wie jedes Jahr neue Gruppen zu diversen Themen gegründet worden. Doch im Zusammenhang mit der Pandemie seien speziell auch Video-Selbsthilfegruppen rund um das Thema Corona entstanden:
Mit der Unterstützung zur Gründung dieser Gruppen gelang es den Selbsthilfezentren, auf die neuen Bedürfnisse im Rahmen der Corona-Krise einzugehen.
Die Umstellung auf virtuelle Gruppen beinhaltete natürlich auch Herausforderungen – vor allem für diejenigen, die sich an die physische Gruppe gewöhnt haben. Eine Person berichtet:
Es kann aber auch Vorteile bringen, wenn man vor der Umstellung bereits Teil einer physischen Gruppe war: «Geholfen hat bei der Umstellung sicher, dass wir uns bereits gut aus den physischen Treffen gekannt haben und somit ein Grundvertrauen vorhanden war.»
Anders gestaltet sich das bei Gruppen, die online entstanden sind: Während es den einen Personen schwerer fällt sich zu öffnen, sind bei anderen die Hemmungen geringer. Eine Person berichtet von der Schwierigkeit, Emotionen über den Bildschirm zu kommunizieren:
Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es dennoch viele Teilnehmende, welche die Möglichkeit des Austausches schätzen.
Hat man sich erst an das neue Format gewöhnt, birgt die virtuelle Selbsthilfegruppe einige Vorteile. Guggenbühl nennt einige davon:
Purnelis erwähnt die dadurch erleichterte Terminfindung, da einfach jede Person von zuhause teilnehmen könne. Hinzu komme, dass das Suchen von Babysittern entfällt, ergänzt Baumgartner.
Gerade schüchternen Personen falle der Einstieg in die Treffen leichter, da sie dies von ihrem gewohnten Umfeld tun können, berichtet Guggenbühl von Rückmeldungen, die sie erhalten habe.
Schlussendlich ist das Erlebnis der virtuellen Gruppen sehr individuell und hängt sowohl von den bisherigen Erfahrungen, als auch vom Thema der Selbsthilfegruppe ab.
Während für die einen die virtuellen Treffen nur eine Übergangslösung darstellen, schätzen die anderen die neue Möglichkeit. Purnelis kann nachvollziehen, wenn man die physischen Treffen bevorzugt: «Als Ausnahme sind virtuelle Treffen in Ordnung, aber als längerfristiges Instrument braucht es den direkten Kontakt.»
Es ist klar, dass soziale Kontakte reduziert auf zweidimensionale Bildschirme nicht denselben Effekt haben. Vor allem dort, wo Vertrauen aufgebaut werden muss, wo persönliche Gefühle und Erfahrungen ausgetauscht werden. Dennoch sind mit den virtuellen Gruppen neue Treffpunkte entstanden, welche neue Chancen und Möglichkeiten mit sich bringen – auch über die Pandemie hinweg. Ob virtuell oder vor Ort: Die Teilnehmenden spüren in der Selbsthilfegruppe, dass sie nicht alleine sind.