Es war die bisher grösste Protestkundgebung im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung in der Schweiz. Am Dienstagabend kamen rund 10'000 Menschen in Genf zusammen, um Gerechtigkeit für schwarze Menschen einzufordern. Doch wie stark beschäftigt sich die Schweiz mit ihrer eigenen rassistischen Vergangenheit und Gegenwart, oder zeigt sie bloss mit dem Finger auf die Zustände in den USA?
«Die Schweiz hatte lange die Haltung, man habe nichts mit Sklavenhandel und Rassismus zu tun. Doch das ist falsch», sagt der St. Galler Historiker Hans Fässler, der zum Rassismus in der Schweiz forscht und das Buch «Reise in Schwarz-Weiss» dazu publiziert hat. «Erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren sind mehr Analysen dazu erschienen.»
Er hofft, dass die Black-Lives-Matter-Kampagne nun zu einer vertieften Reflexion führt und regionalen Debatten zum Durchbruch verhilft. Anzeichen dafür gibt es. So wurde kürzlich in Neuenburg eine Onlinepetition gestartet, um die Statue des Bankiers David de Pury zu entfernen. Er verstarb 1786 in Lissabon und hinterliess seinem Heimatort viel Geld.
Nur: «Den Grossteil seines Vermögens erwarb er durch Diamanten-, Finanz- und Sklavenhandel am portugiesischem Hof», sagt Fässler, der schon vor zwölf Jahren einen Ein-Mann-Protest gegen de Pury veranstalte. Die Statuen-Diskussion wird auch im Ausland geführt. In Belgien sollen Statuen der Kolonialgeschichte verschwinden, und im englischen Bristol haben Demonstranten diese Woche gar eine Statue des Sklavenhändlers Edward Colston versenkt.
Und was ist mit der pompösen Statue von Alfred Escher am Zürcher Bahnhofplatz? Escher wird aufgrund seiner Verdienste im 19. Jahrhundert beinahe als Nationalheiliger verehrt, gilt er doch als Vater der heutigen SBB, der ETH Zürich, der Credit Suisse und der Swiss Life. Nur: Die Familie Escher errang einen Teil ihres Vermögens aufgrund von Kaffee-Plantagen in Kuba, wo sie Sklaven hielt, wie erst vor einigen Jahren bewiesen wurde.
Für Fässler braucht es deshalb auch bei seinem Denkmal ein Umdenken. «Man sollte sich überlegen, ob die Alfred-Escher-Statue in einem Museum nicht besser aufgehoben wäre.» Es sei eine Abwägung zwischen seinem immensen Einfluss auf die moderne Schweiz - und dem Sklavenblut. «Zumindest bräuchte es eine zusätzliche Plakette, die auf die Schattenseiten seiner Erfolge aufmerksam machen würde.»
In St. Gallen erreichte SP-Mitglied Fässler zusammen mit anderen Aktivisten 2009 nach langem Kampf, dass die über 100 Jahre lautende Krüger-Strasse umgetauft wurde in Dürrenmatt-Strasse. Krüger war ein Buren-Führer in Südafrika Ende des 19. Jahrhunderts und ein Wegbereiter der Apartheid.
Zu mehrfacher Ehre brachte es der schweizerisch-amerikanische Naturforscher Louis Agassiz aus dem Kanton Freiburg, der sich unter anderem als Gletscher-Experte im 19. Jahrhundert einen Namen machte. Doch er war auch ein Vordenker der Nazi-Rassenhygiene. Ein erster Erfolg gelang Fässler und dem Komitee «Démonter Louis Agassiz» in Neuenburg 2018. Der nach ihm benannte Platz wurde in in «Espace Tilo Frey» umbenannt. Frey war 1971 die erste dunkelhäutige Nationalrätin der Schweiz.
In Lausanne lenkte die Stadt ein, indem sie an der «Avenue Agassiz» einen kritischen Text zu ihm anbringen will. Laut Historiker Fässler fordern lokale Aktivisten, sie solle komplett umbenannt werden in «Avenue Mike Ben Peter». Der Nigerianer erlitt in unmittelbarer Nähe zur «Avenue Agassiz» bei einer Polizeiaktion 2018 einen Herzstillstand und verstarb. Untersuchungen laufen noch, doch erinnert sein Fall an jenen von George Floyd in den USA.
Agassiz schaffte es auch zu topographischen Ehren: Auf der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Wallis steht das Agassizhorn. Bereits 2007 forderte der Genfer Parlamentarier Carlo Sommaruga eine Umbenennung. Der Bundesrat erachtete dies als nicht nötig. Und bis heute würden sich die zuständigen Gemeinden dagegen wehren, sagt Historiker Fässler. «Wir haben ihnen vor kurzem aber einen neuen Brief geschrieben mit Verweis auf die Bewegung in den USA und hoffen, dass sie nun sehen, dass sich die Zeiten geändert haben.»
Fässlers Vorschlag ist, dass der Berg neu symbolisch nach Renty benannt wird, einem kongolesischen Sklaven, den Agassiz auf einer Plantage in South Carolina fotografieren liess, um die von ihm postulierte Minderwertigkeit der «schwarzen Rasse» zu beweisen. Der Genfer SP-Ständerat Sommaruga bereitet zudem einen neuen politischen Vorstoss vor.
Fässler betont, dass die Diskussionen über eine Demontierung der Statuen oder die Umbenennung von Strassen vielerorts seit Jahren laufen würden. «Aber nun erhalten sie im Zuge der US-Proteste mehr Beachtung, und das ist gut so, denn bisher fehlte das Bewusstsein dafür hierzulande weitgehend.»
Mir stellt sich aber hier die Frage, wieso wollen wir Statuen von Persönlichkeiten stürzen die am rande an ein schlimmes aber damals gängiges muster gehandelt haben? Bei Escher ist es gegenüber seinem Schaffen nur eine Randerscheinung gewesen.
Im Gegensatz lassen wir es zu das Glencore und Nestle weiterhin ihr Unwesen treiben und zwar nicht gestern sondern heute und morgen!
Die Ungerechtigkeiten von gestern können nicht mehr gut gemacht werden, versuchen wir sie nicht zu wiederholen!
Wow.
Als nächstes Willi Tell als Terrorist (den er aus Habsburger Sicht war) entfernen?
Geschichtliche Einordnung auf Sekundarstufe I bringt viel mehr als hochakademische Diskussionen zu führen.
Geschichte bedeutet nicht, sie politisch korrekt zu "zensieren", sondern sie aufzuarbeiten und zu verstehen. Denn ändern kann man sie nicht mehr, aber vielleicht gleiche Fehler verhindern. Vergisst man, so kann man auch nicht lernen.