Am Mittwoch stellte sich Gesundheitsminister Alain Berset vor die Medien und verkündete umfangreiche Öffnungen. Nicht nur Restaurants dürfen in Aussenbereichen wieder Gäste bedienen, auch Fitnesszentren, Kinos und Theater dürfen ihre Tore am Montag wieder öffnen. Massnahmen-Lockerungen trotz steigender Fallzahlen: Ging der Bundesrat vor der Wirtschaft in die Knie?
Diese Frage stellt SRF-«Arena» Moderator Sandro Brotz seinen Gästen am Freitagabend im Studio acht. Die Meinungen gehen weit auseinander.
GLP-Nationalrat Martin Bäumle wählt klare Worte: «Aussenterrassen zu öffnen, das kann man von mir aus machen. Aber Fitnessbetrieb und Singen ohne Maske erlauben? Das ist schlicht dumm.» Der Atmosphärenwissenschaftler ist extra mit einem Luftqualitätsmessgerät in die «Arena» angereist. Für ihn ist klar: In Innenbereichen kann sich das Virus besser verbreiten. Daten zu sammeln, sei unausweichlich. Ebenfalls kritisch äussert sich Samira Marti. «Es ist heikel, Innenbereiche so kurz vor dem Ziel zu öffnen», so die SP-Nationalrätin.
Einer, der über die Öffnungen glücklich sein müsste, ist SVP-Nationalrat Thomas Matter. Das denkt auch Moderator Brotz und versucht Matter ein Dankeschön in Richtung Bundesrat Berset zu entlocken. Doch Matter verzichtet: «Das sind endlich ein paar Schritte in die richtige Richtung. Aber ich muss trotzdem draussen am Vierer-Tisch meine Maske anbehalten und darf sie nur kurz vor einer Gabel Spaghetti ablegen.» Zufrieden klingt anders.
Ebenfalls gar nicht zufrieden mit den Lockerungen ist Infektiologe Manuel Battegay. «Das ist eine Gratwanderung ohne Sicherheitsnetz», so der Basler Chefarzt. In Battegays Augen geht die Kommunikationsstrategie des Bundes nicht auf. «Ich glaube nicht, dass die Message bei den Leuten angekommen ist. Es braucht jetzt extreme Disziplin bei den Massnahmen. Auch draussen kann man sich anstecken.»
Nach diesen ersten Statements ist es mit der Nüchternheit auch schon fast vorbei. Auftritt Studiogast und Logistiker Jürg Schmidiger: «Diese Öffnungen sind absoluter Quatsch. Alles, was wir uns so hart erarbeitet haben, wird dem Virus wieder zum Opfer fallen, nur damit ein paar Leute Profit machen können.» Schmidigers Rundumschlag weckt Matters Streitlust. Noch bevor Erster sein Statement beenden kann, fällt ihm der SVP-Mann ins Wort. Doch der Logistiker lässt sich davon nicht beeindrucken und poltert weiter. Die Wirtschaft sei wichtiger als Menschenleben, schliesst Schmidiger.
Doch Matter will davon partout nichts hören. «Das sind pauschale Sprüche. Unglaublich. Das stimmt doch einfach nicht», sagt er kopfschüttelnd. Sobald die Risikogruppe geimpft sei, sei das Virus für die restlichen 90 Prozent der Menschen nicht gefährlicher als eine Grippe. «Bei Grippewellen haben wir bislang ja auch keinen Lockdown beschlossen», schliesst Matter.
Matters Worte locken den nächsten Gegner auf den Plan. «Kontraproduktiv» sei es, wenn man die Krankheit verharmlose, so Infektiologe Battegay. «Das ist unfair gegenüber den Leuten, die sich jeden Tag einem hohen Risiko aussetzen.» Battegay richtet seine Worte nicht direkt in Matters Richtung. Doch in der Runde ist ziemlich klar, wem er das sagt.
Matter krebst zurück. Keineswegs würde er das Virus bagatellisieren. «Irgendwann müssen wir aber lernen, damit zu leben.» Mit 100 Jahre Lockdown, wie das die SP fordere, ginge das eben nicht, schiesst der Nationalrat bereits in die nächste Ecke. Doch Marti gibt sich unberührt. «Dem Virus ist es egal, ob Ihnen der Lockdown jetzt reicht oder nicht», giftet sie zurück.
Nicht minder aufgeregt schaltet sich jetzt GLP-Mann Martin Bäumle dazwischen. Wirtschaft und Gesundheit hätten sich nie konkurriert. Während der zweiten Welle seien die meisten Betriebe offen gewesen. Aber dass man jetzt alles auf die Öffnungskarte setze und sogar die Chöre wieder singen lasse, die überhaupt rein gar nichts mit der Wirtschaft am Hut hätten und «tschuldigung, jetzt auch noch ein, zwei Monate hätten warten können» – das alles bringt Bäumle auf die Palme. So fest, dass er merklich mehr CO2 ausstösst und sich SRF-Moderator Brotz besorgt nach der Luftqualität im Studio erkundigt.
Die ist kritisch. Darum auf zum nächsten Themenblock, wo man sich zum Glück (die Luftqualität bedankt sich) einig ist.
Die Schweiz muss impfen, was das Zeug hält: Sieben Tage die Woche, am liebsten 24 Stunden am Tag. Das sieht auch Infektiologe Battegay so. «Wir haben genügend medizinisches Personal, das bereit ist, mitzuhelfen.»
Kurz vor Schluss erhält ein weiterer Studiogast das Wort. Der 22-jährige Roman Räss wählt seine Worte bedacht. Lässt aber auch durchblicken, wen man im ganzen Wirrwarr von Öffnungsturbos und Impfstrategien nicht vergessen darf. Er gehe nicht davon aus, sagt Räss schelmisch in die Runde blickend, dass jemand der Anwesenden vor der Pandemie Freitag und Samstag feiern ging. «Wir jungen Menschen mussten am meisten zurückfahren und wir werden als letzte geimpft. Das ist in Ordnung. Aber ich wünschte mir, dass irgendwann die Solidarität, die wir für die älteren Generationen aufbrachten, zurückkommt.»