Es sind 700 Seiten auf Englisch. Nur ein exklusiver Kreis durfte bisher Einblick nehmen – und doch ist der Abstimmungskampf zum neuen EU-Vertragspaket längst lanciert.
Obwohl der Öffentlichkeit die Details noch bis vermutlich Mitte Juni verwehrt bleiben, wird heftig über das Vorgehen gestritten: Soll das Ständemehr gelten? Wie viele Vorlagen braucht es? Und wann soll die Abstimmung stattfinden?
Auch inhaltlich ist der Vertrag seit jeher umstritten: Vor allem die geplante Schutzklausel bei der Zuwanderung und die dynamische Rechtsübernahme sorgen für politischen Zündstoff – wie man am Freitagabend in der «Arena» von SRF mit den geladenen Präsidiumsmitgliedern aus allen vier Bundesratsparteien sah.
Um eines vorwegzunehmen: Gelesen hat das über 700 Seiten umfassende Vertragsdokument Schweiz-EU noch keiner der «Arena»-Gäste. Doch von Cassis’ Aussendepartement ausgewählte Personen konnten bereits einen Augenschein erhaschen.
Auf «Nachdruck», wie er sagt, durfte auch SVP-Nationalrat Thomas Aeschi in den sogenannten Reading Room. Was er darin gesehen habe, sei «viel schlimmer, als befürchtet» – der Schweiz werde «praktisch das Stimmrecht entzogen». Ihn stört insbesondere die «Geheimniskrämerei» des Bundesrates: Abgeändert würden die Dokumente nicht mehr, also solle das Stimmvolk auch Einsicht haben.
FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt schüttelt wegen Aeschi den Kopf und sagt, er habe an diesem Abend «wohl die Aufgabe», gewisse Aussagen ins richtige Licht zu stellen. «Es wird niemandem Stimmrecht entzogen in der Schweiz, das ist eine Falschaussage.»
Silberschmidt erklärt auch, dass er eine Veröffentlichung der Vertragspunkte aktuell für «unseriös» halte – solange die Dokumente mit allen juristischen Begriffen nicht vom Englischen in die Schweizer Landessprachen übersetzt seien. Er sagt an Aeschi gerichtet: «Die SVP versucht bis zum Abstimmungstermin aus allem einen Skandal zu machen».
Rückendeckung erhält Silberschmidt von Swissmem-Direktor Stefan Brupbacher, der Aeschi erinnert, dass am EU-Paket auch die SVP-Bundesräte Rösti und Parmelin federführend mitgewirkt hätten – wie etwa beim Stromabkommen. Doch genau dieses Abkommen ist für Aeschi das nächste Reizthema.
Der SVP-Politiker warnt: «Beim Stromabkommen werden die Konsumenten plötzlich aus dem Markt geworfen, landen in einem fluktuierenden Strommarkt und zahlen dann mehr.»
Brupbacher schüttelt ungläubig den Kopf. Der Swissmem-Direktor stellt klar: «Was Sie sagen, stimmt einfach nicht, Herr Aeschi. Die Bürger werden nicht gezwungen, in den Markt zu wechseln. Bundesrat Rösti hat verhandelt, dass sie die Wahlfreiheit behalten.» Das führe nicht zu höheren, sondern «tendenziell günstigeren Strompreisen» und garantiere ein stabiles Netz. Dass die Schweiz ihren Strom weiterhin selbst produzieren müsse, sei unbestritten – aber, so sagt Brupbacher: «Netzstabilität ist zentral. Und genau die sichern wir mit diesem Abkommen mit der EU.
Obwohl noch niemand das über 700-seitige Dossier ganz gelesen hat, debattiert die Arena-Runde auch über Personenfreizügigkeit, Marktzugang und die neue Schutzklausel. Aeschi übt überall Kritik aus – und stellt die bilateralen Beziehungen mit der EU grundsätzlich infrage. «Die Schweiz braucht keine Personenfreizügigkeit. Schliesslich betreibt sie auch Handel mit Staaten wie China oder Brasilien», sagt er.
Als Silberschmidt einwirft, dass Brasilien kein Nachbarland sei, kontert Aeschi trocken: «Wir haben doch eine Grenze – die können ja mit dem Flugzeug kommen.» Silberschmidt kontert trocken: «Wir haben keine Grenze zu Brasilien.» Gelächter und Kopfschütteln in der Arena.
Mit der Schutzklausel kamen sie dann aber wieder zurück zum Thema. Diese soll greifen, wenn Schwellenwerte bei Zuwanderung, Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe überschritten werden. Der Bundesrat müsste dann prüfen, ob Massnahmen nötig sind – notfalls gegen den Widerstand der EU.
Aeschi glaubt nicht an die Wirkung: Der Bundesrat habe bereits seit 20 Jahren ähnliche Möglichkeiten, habe aber «noch nie eine solche Klausel angewendet». Dass es in Zukunft bei Bundesrat Jans anders werde, sei «mehr als fraglich».
Auf «ihren» Bundesrat angesprochen, möchte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer klarstellen: «Die Schweiz ist auf geordnete Regeln mit der EU angewiesen – gerade weil sie klein ist».
Wenn es Differenzen gebe, dann brauche es klare Verfahren. Eine Streitbeilegung, bei der man sich am Schluss einigen kann.
In der EU-«Arena» waren aber noch lange nicht alle bei der Streitbeilegung angekommen.
Spätestens beim Thema Ständemehr eskaliert die Arena-Debatte endgültig. Während der Bundesrat das EU-Paket dem Volk ohne Ständemehr zur Abstimmung vorlegen will, fordern andere: nicht ohne doppeltes Ja. Genau das will Philip Erzinger von der Allianz Kompass Europa mit der Kompass-Initiative.
Diese fordert, das Ständemehr für das Vertragspaket nachträglich zu erzwingen – inklusive Rückwirkung. Das Argument: Die Kantone müssten mitreden, wenn Grundsatzentscheide zur Souveränität anstehen. Erzinger gibt sich kämpferisch: «Wir sind bald bei 85'000 Unterschriften. Wenn das Volk Ja sagt, muss neu abgestimmt werden – mit Ständemehr.»
Mattea Meyer schüttelt über so viel Verfassungsbiegen den Kopf. «Artikel 140 ist klar: Das ist kein obligatorisches Referendum. Ein Staatsvertrag unterliegt dem fakultativen Referendum – und das ist verfassungskonform. Punkt.» Auch Mitte-Ständerätin Marianne Binder stützt die Verfassungsargumentation des Bundesrats – betont jedoch, dass die Meinungsbildung in ihrer Partei noch nicht abgeschlossen sei, da das Vertragspaket noch nicht gelesen wurde.
Thomas Aeschi hingegen sieht den Untergang der Schweiz nahen: «Wenn selbst die Kuhhorn-Initiative das Ständemehr brauchte, aber dieser EU-Vertrag nicht – dann ist das der Anfang vom Ende des Ständerats. Marianne, du wirst dann nicht mehr dabei sein.»
Binder schüttelt über Aeschis düsterem Szenario den Kopf und kontert nüchtern: «Ich wäre nie dabei, an der Rolle des Ständerats zu rütteln». Auch FDP-Vize Silberschmidt schaltet sich ein – und bringt die Debatte auf den Punkt: «Wir alle wollen, dass das Volk entscheidet. Aber nicht alles gehört automatisch vors Ständemehr. Wer hat denn wirklich Angst vor dem Volk?»
Jeder andere würde sich schämen, die Zeit von den Gästen und Zuschauern so zu vertrödeln.
Also wenn Martullo diese Sprache so gut versteht, wie sie sie spricht, dann wundert mich nicht, warum sie die Verträge so schrecklich fand...
Alte Zöpfe gehören abgeschnitten oder neu geregelt.