Seit einigen Jahren schaut sich nun watson am Freitagabend die SRF-«Arena» an, um das politischen Duell zu bewerten, zusammenzufassen und einzuordnen. Dieses Jahr ging es über 20 Mal um dasselbe Thema. Man bekam das Gefühl, die Corona-Pandemie von allen Seiten doppelt und dreifach diskutiert zu haben. Entsprechend waren auch die Erwartungen zur gestrigen Sendung: Der Bundesrat hat entschieden – was meint links, was meint rechts, was meinen Betroffene?
Die letzte SRF-«Arena» des Jahres 2020 fokussierte sich mehrheitlich auf die ersten beiden Punkte. Wirklich in Erinnerung bleiben dürfte jedoch das, was das Team um den Moderator Sandro Brotz zu den Betroffenen lieferte.
Eine gebrochene, angeschlagene, erschöpfte Stimme, um genau zu sein. Sie gehörte Martin Balmer, dem Leiter der Pflege Intensivmedizin am Kantonsspital Aarau. Sein Gesicht war für die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer kaum erkennbar: Er sass mit Schutzmaske, Schutzbrille, Schutzanzug und Headset vor der Webcam im Aufwachraum des Spitals, das praktisch über Nacht zur Intensivstation umfunktioniert wurde.
Sein Auftritt stellte alles in den Senkel, was in der einen Stunde davor und den gut 15 Minuten danach diskutiert wurde. Er redete nicht über das Politische, nicht über die Massnahmen des Bundesrates, die Stunden zuvor bekannt gegeben wurden. Balmer kannte diese nicht einmal. Bei der Arbeitsbelastung auf der Intensivstation fand er keine Zeit, sich darüber zu informieren. Brotz musste ihn fünf Minuten vor Drehbeginn aufdatieren.
Balmer konnte man die Erschöpfung ansehen und anhören. Er redete von Doppelschichten, die seine Kolleginnen und Kollegen – im Hintergrund knapp erkennbar – in diesen Tagen leisten müssen. «Die meisten Leute mögen nicht mehr. Sie sind müde, sie haben zu wenig Zeit sich zu erholen», erzählte er. Er sprach von der seelischen Belastung und der physischen Ermüdung, verursacht durch lange Arbeitszeiten, den Erfahrungen auf den Stationen und durch die FFP2-Maske und den Schutzkittel, in dem man nach dreissig Minuten «bach nass» sei.
Und dann sprach Balmer jene Worte, die einem kalt den Rücker runter liefen: «Ich habe noch nie in den 30 Jahren Intensivmedizin erlebt, dass Ärzte und Pflegende so viel weinen.» Dies aus Erschöpfung und Selbstzweifel. «Sie sehen auch kein Ende. Und es trifft uns doppelt, wenn man dann draussen hört, Corona sei nur ein ‹Joke›, oder sieht, wie teilweise die Maske getragen wird.» Das löse bei seinen Leuten Kopfschütteln aus, mache sie aber auch traurig und wütend.
Balmers Appell an alle, die zuhörten, betraf nicht das politische Hick-Hack. «Vergesst uns nicht», war seine einzige Forderung neben dem eindringlichen Wunsch, sich bewusster an die Hygienemassnahmen zu halten. Nach der Schaltung werde er sich Zeit nehmen und zu seinen Kolleginnen und Kollegen schauen, sagte der Leiter auf der Intensivmedizin. Er werde ihnen «Danke» sagen – schliesslich hätten sich viele Pflegende trotz Erschöpfung kurzfristig gemeldet, auf der neuen Intensivstation im Aufwachraum weiter zu arbeiten.
Fünf Minuten nahm er sich Zeit, um diesen eindrucksvollen Einblick zu geben. Fünf Minuten voller Menschlichkeit, die durchaus zu einem historischen TV-Moment werden könnten. Sie werden bestimmt einen Einfluss auf die politische Corona-Diskussion der nächsten Tagen haben – zumal die anderen Studiogäste wenig Wegweisendes gesagt hatten.
Neben dem zugeschalteten Balmer, waren die beiden Bundesparlamentarier Alfred Heer (SVP) und Mattea Meyer (SP) mit dabei, als zweiter «Betroffener» wurde der Gastronom Rudi Bindella jr. eingeladen. Den politisch-wissenschaftlichen Überbau vertraten Lukas Engelberger (Regierungsrat Basel-Stadt und Präsident der Gesundheitsdirektoren-Konferenz) sowie Taskforce-Infektiologe Manuel Battegay.
Es ging, wie bereits angedeutet, um die neusten Corona-Massnahmen des Bundes. Es kristallisierte sich ein gewisser Konsens bezüglich der Kritik am Gastro-Lockdown aus. Gastronom Bindella gab seiner Branche eine Stimme, die sich verständlicherweise als Prügelknabe der Nation fühlte.
Mattea Meyer, die Co-Präsidentin der SP, zeigte grosses Verständnis für die Frustration der Wirtschaft und verwies auf die (bürgerliche) Politik, die gefordert sei, aber die geforderten Unterstützungen nicht liefere. Und sie versuchte ihren Parteigenossen und Bundesrat Alain Berset nach der landesweiten Kritik zu rehabilitieren: Er sei nunmal ein Teil eines Siebnergremiums und könne nicht einfach seine Wünsche durchsetzen, obwohl er dem Gesundheitspersonal mehr dienen wolle.
Nationalrat Heer spielte mit seinen Rundumschlägen zwar geschickt die Oppositionsrolle. Mit der Ermahnung, dass Gastro-Shutdowns in Nachbarländern wenig gebracht hätten, landete er gar einen guten Punkt. Der gescheiterte Kandidat fürs SVP-Präsidium verzettelte sich aber mit Einwürfen, persönlichen Angriffen und chaotischer Gesprächsführung.
Sein Auftritt enttäuschte unter dem Strich, nachdem er mehrfach über alles, kreuz und quer und ohne roten Faden schimpfte und sich sogar vom Moderator Brotz provoziert fühlte. Das führte dazu, dass am Ende Heers Kernargumente beim Fernsehpublikum kaum hängen blieben. Dies, im Gegensatz zum Gastronomen Bindella, der immerhin die Sicht der kritischen Wirtschaft gut zum Ausdruck bringen konnte.
Der politisch-wissenschaftlichen Überbau mit Engelberger und Battegay war einmal mehr schwierig zu fassen: Sie sprachen jeweils in ihrer Funktion und konnten sich deshalb nur mit viel Diplomatie kritisch äussern.
Immerhin war herauszuhören, dass auch GDK-Präsident Engelberger den Bundesrat nicht immer ganz versteht, sich Solidarität für vergessene Branchen und wohl strengere Massnahmen «aus Rücksicht» zum Gesundheitspersonal gewünscht hätte. Taskforce-Infektiologe Battegay gab zu, dass auch er sich sich manchmal über die Politik ärgere.
Ich warte immer noch auf den Journalisten, der einen Politiker in solch einer Situation mal darauf hinweist, dass der chronische Personalmangel im Gesundheitswesen eine direkte Folge der Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre ist.