In der Schweiz gibt es immer weniger Menschen, die im Ort arbeiten, wo sie auch wohnen. Das bedeutet mehr und mehr Pendler. Warum ist das so?
Caroline Beglinger: Die Bevölkerung wächst. Aber das ist nicht alles. Unsere Strassen werden ständig besser, das ÖV-Angebot stetig ausgebaut. Dadurch sind die Distanzen rascher zu bewältigen und erscheinen kürzer. Unser System macht das Pendeln attraktiver.
Sie sprechen von einem System. Was für ein System haben wir in der Schweiz denn?
Wir haben in der Schweiz ein Städte-Netz. Die Städte sind also, was die Mobilität betrifft, miteinander verbunden. Dies im Gegensatz zu «Sonnensystemen» wie in London oder Paris, wo am Morgen alle ins Zentrum strömen und am Abend wieder zurückfahren. Unsere Strassen und Züge sind also nicht nur in eine Richtung ausgelastet. Trotzdem ist unsere Infrastruktur zu den Spitzenzeiten morgens um 7 und abends um 17 Uhr sehr gut ausgelastet, teilweise überlastet.
Was können wir dagegen unternehmen?
Die Hochschule Luzern hat seit Montag ihre Vorlesungen so verschoben, dass die Studenten nicht in den Hauptverkehrszeiten unterwegs sind. Solche Massnahmen bringen etwas. Wir müssen lernen umzudenken.
Inwiefern?
In unserer Gesellschaft ist es immer noch so, dass der, der am Morgen am frühesten im Büro ist, der Beste ist. Trudelt einer erst um 10 Uhr ein, wird er schräg angeschaut. Die soziale Akzeptanz für jene, die spät beginnen, ist tief. Das ist falsch. Beginnen nun Studenten später mit den Vorlesungen, ist es für sie später völlig normal, um 10 Uhr im Büro zu erscheinen. Das Wertesystem ändert sich. Dadurch können wir die Spitzenzeiten am Morgen und am Abend breiter machen und das Bahn-, wie auch das Strassennetz entlasten.
Das alleine dürfte nicht genügen.
Das stimmt. Homeoffice ist eine andere wirksame Methode. Ich mache das selber so. Einen Tag arbeite ich Zuhause. Es ist jeweils ein effizienter Tag. Je mehr Arbeitgeber ihren Angestellten Homeoffice-Tage erlauben, desto langsamer wachsen die Pendler-Ströme. Ein anderes Mittel ist das Mobility-Pricing, bei welchem zu den Peak-Zeiten die Verkehrsteilnehmer mehr bezahlen müssen. Das Hauptproblem ist jedoch ein anderes.
Welches?
Unsere Mobilität, und ich rede nicht nur vom Auto, ist ganz allgemein zu billig. Wir zahlen bei keinem Transportmittel den vollen Preis. Immer zahlt die Allgemeinheit oder der Staat mit. Würde man die vollen Kosten auf den Verkehrsteilnehmer abwälzen, würde sich das Problem mit den steigenden Pendler-Zahlen minimieren. Die Wissenschaft lehrt uns: Was zu billig ist, wird überkonsumiert.
Wo sehen Sie dabei das grösste Potenzial?
Bei den Autofahrern. Sie machen immer noch die grösste Gruppe der Pendler aus. Über 50 Prozent der Pendler-Distanzen werden mit dem Auto zurückgelegt. Würde das Autofahren teurer werden, könnte der Verkehr besser finanziert werden. Bei den Autofahrern gibt es zudem mehr als nur eine Lösung, um die langen Staus zu den Hauptverkehrszeiten kürzer zu machen.
An welche Lösungen denken Sie?
Immer noch fahren viele Autos mit nur einem Fahrer durch die Gegend. Carpooling ist eine gute Sache. Die Digitalisierung bietet uns hier neue Chancen, die wir nutzen müssen. Dafür könnte der Staat Anreize schaffen: Spezielle Fahrspuren für Autos, die von mehr als einer Person benutzt werden oder Parkplätze näher am Arbeitsplatz für gut besetzte Autos. Oder auch steuerliche Anreize für jene, die Carpooling betreiben. Die Fläche unseres Landes ist begrenzt. Bereits heute ist rund ein Drittel unserer Siedlungsfläche mit Strassen zubetoniert. Auf der anderen Seite haben Autos im Pendler-Verkehr einen Auslastungsgrad von 1,1 Personen. Für mich ist klar, wo der Hebel liegt. Im Ausbau des Strassennetzes sicher nicht, das wäre absurd. In wenigen Jahren stünden wir wieder vor denselben Problemen. Das zeigen Städte wie Los Angeles, die seit Jahrzehnten nur auf das Auto setzten, ganz deutlich.
Nehmen wir einmal an, die Preise für die Mobilität würden heraufgesetzt. Wo würde das Geld dann am intelligentesten eingesetzt werden?
Für bessere Velowege. Ein Drittel aller Autofahrten sind nur drei Kilometer lang oder kürzer. Solche Distanzen können wir einfach per Velo oder zu Fuss bewältigen. Mit dem E-Bike sind auch Steigungen kein Problem mehr. Es braucht jedoch sichere Wege. Gibt es solche, steigen die Menschen um. Das zeigt das Beispiel Kopenhagen. Hier haben wir sehr viel Potential, gerade in den Städten. Aber klar, auf längeren Distanzen, muss in die Bahn investiert werden. Dank FABI ist das auch möglich.
Bleibt noch der Steuerwettbewerb der Kantone. Was für eine Rolle spielt dieser im Zusammenhang mit dem Pendeln?
Der Steuerwettbewerb unter den verschiedenen Kantonen ist etwas, das mich wirklich stört. Der Kampf führt dazu, dass viele Schweizer lange Arbeitswege auf sich nehmen, um Steuern zu sparen. Für das Land ist das insgesamt keine kluge Politik. Zurück zur zukünftigen Entwicklung: Alle Prognosen sagen, dass die Schweizer Bevölkerung weiter wachsen und noch mobiler wird. Mit mehr Pendlern müssen wir rechnen. Es liegt nun an uns, das intelligent zu organisieren, neue Wege zu beschreiten. Denn es gibt Lösungen, die wachsenden Ströme zu bewältigen. Allerdings dürfen wir mit der Umsetzung nicht zu lange warten. Wir müssen jetzt die Weichen stellen.