Beinahe wäre dieser Text ausgefallen. Fast so wie vor einer Woche der Zug zwischen Olten SO und Sissach BL, das «Läufelfingerli» (wir berichteten). Wegen eines Personalengpasses wurde die Linie kurzfristig für einen Tag eingestellt. Ersatzbusse fuhren die Passagiere ins Ziel.
Auch dieser Text stand wegen des Lokführermangels auf der Kippe. «Der begleitende Lokführer fällt wegen eines familiären Notfalls aus», lässt ein SBB-Sprecher diese Zeitung am Donnerstagvormittag wissen. Geplant war die Begleitung eines 55-jährigen Lokführer-Aspiranten auf einer seiner Lehrtouren im Raum Zürich.
Das Problem: Der Aspirant, Benedikt Haag, darf noch nicht selbst fahren. Während seiner anderthalbjährigen Ausbildung begleitet er Lokführer. Dabei muss er die Strecken und Loks oder Triebwagen in- und auswendig kennenlernen, die er später fahren wird. «Heizer» nennen die Bähnler Novizen wie Haag; ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als jeder Dampflokomotivführer einen Heizer zur Seite hatte, der das Feuer mit Kohle speiste.
Donnerstagmorgen: Damit diese Zeitung und «Heizer» Haag doch noch zu ihrer Fahrt kommen, setzt der SBB-Sprecher sämtliche Hebel in Bewegung. Und findet Gehör beim Kader. Andreas Oberholzer ist einer der Chefs der Lokführer für die Region Zürich-Ostschweiz. Bei Engpässen springt er selbst ein. Auf der «Läufelfingerli»-Linie konnte er dies nicht, an diesem Donnerstag aber klappt es. Und so begleiten wir Lokführer Oberholzer und seinen Heizer Haag von St. Gallen nach Zürich.
St. Gallen, 16 Uhr: Andreas Oberholzer prüft im Führerstand des Intercity-Neigezugs 5 nach Lausanne die Systeme. Haag hilft mit und beantwortet dazwischen unsere Fragen. Der 55-jährige Familienmann aus der Region Brugg AG hat eine beeindruckende Karriere hinter sich: Doktorat in Chemie, Managerposten in der Wirtschaft, ein toller Lohn. «Ich bin in einer komfortablen Lage», sagt er, «unser Haus ist fast abbezahlt, meine Frau arbeitet, die Kinder sind erwachsen.»
Und so entschied sich Haag vor einem Jahr, den Managerposten gegen die Ausbildung im Führerstand abzugeben. Er war sich bewusst, die finanziellen Einbussen würden einschneidend sein. Denn bei Lokführern beginnt ein Jahressalär während der Ausbildung bei 52 000 Franken und erreicht kaum je die Hälfte eines Managereinkommens.
16.07 Uhr: Ein Zugbegleiter schliesst die Türen, Oberholzer erhält die Abfahrtsbestätigung per SMS und setzt den Intercity in Bewegung. Haag kontrolliert die Signale und Höchstgeschwindigkeiten mit. Als Manager hatte er sich Gedanken gemacht: Wie lange würde er die 16-Stunden-Arbeitstage noch durchhalten? Was, wenn er in seinem Alter arbeitslos würde? Als über 50-Jähriger war er sich bewusst: Würde es gesundheitlich nicht mehr so rund laufen, es wäre wohl schwierig, den Job zu behalten oder einen neuen zu finden. Heute sieht er es so:
Haag sehnt den Tag herbei, an dem er zum ersten Mal selbst einen Zug steuern darf. «Das Gute an diesem Job ist, er erfordert höchste Konzentration im Führerstand, doch nach Feierabend kann man abschalten. Das war in der Privatwirtschaft nie so.»
Routiniert aber konzentriert lässt Oberholzer den Intercity durch die Ostschweiz fahren, aufmerksam beobachtet von Haag. Unter Bähnlern geht die Angst um vor der Automatisierung. Doch Oberholzer und Haag sind überzeugt: Bis auf dem Schweizer Bahnnetz komplett führerlose Züge fahren, dauert es noch Jahrzehnte. Und im Intercity 5 nach Zürich wird klar: Der Mensch ist trotz modernsten Sensoren und Systemen nicht aus dem Führerstand wegzudenken.
Winterthur 16.52 Uhr: Oberholzer leitet die Bremsung ein. Schon taucht der Bahnhof auf. Dicht an dicht stehen die Pendler auf dem Perron. Lokführer sind exponiert, bei den Infoabenden vor der Ausbildung werden die Schattenseiten des Berufs thematisiert, zum Beispiel sogenannte «Personenunfälle». Haag ist sich bewusst, rein statistisch könnte es auch ihn einmal treffen. «Ich weiss nicht, wie ich darauf reagieren würde, das weiss keiner. Doch von dieser Vorstellung lasse ich mich nicht abschrecken.»
Der Beruf Lokführer hat an Strahlkraft verloren. Doch ein Rekrutierungsproblem will man bei den SBB partout nicht sehen. «Unsere Klassen sind voll, wir haben genügend Bewerbungen und könnten gar nicht noch mehr Lokführer ausbilden», erklärt Oberholzer. Dann kam es in der Vergangenheit zu Versäumnissen?
«Wir haben eingeräumt, dass wir den Bedarf zu Spitzenzeiten in den letzten beiden Jahren unterschätzt haben», heisst es bei den SBB. Und im Führerstand des Intercity 5 erklärt Oberholzer: «Bei den Pensionierungen und den Abgängen haben wir richtig kalkuliert. Damit haben die Engpässe gar nicht zu tun.» Womit dann? Laut SBB haben ausserordentlich viele Baustellen und Extrazüge an Events die Probleme eingebrockt. Im Sommer hätten viele Lokführer Überstunden angehäuft. Nun müssten sie diese kompensieren, komme es zu Ausfällen wegen Unfällen oder Krankheit, werde es eng, so die SBB.
Zürich 17.15 Uhr: Der Zug verlässt den Bahnhof Zürich Oerlikon, biegt in den Weinbergtunnel ein und unterquert einmal die Stadt. In ein paar Minuten erreichen wir den Hauptbahnhof, wo der Lokführer Andreas Oberholzer und sein Heizer, Lokführer-Aspirant Benedikt Haag, abgelöst werden.
Die SBB suchen aktiv nach geeigneten Kandidaten und Kandidatinnen über 40. Nach oben gebe es keine definierte Grenze, heisst es bei der Bundesbahn. Voraussetzung für alle: Sie müssen die medizinischen und psychologischen Eignungstests bestehen. Weil sich Lokführer aber nicht von heute auf morgen ausbilden liessen, warnt Lokführer-Chef Oberholzer, werde die Situation mindestens noch ein Jahr anspruchsvoll bleiben. (aargauerzeitung.ch)
Wäre ich 50, hätte ich mich auch beworben. Leider war es damals noch nicht möglich und heute, mit 71, geniesse ich meinen 3.Lebensabschnitt und schreibe diesen Beitrag aus dem pünktlichen SBB Zug.
Beim Punkt Feierabend kann ich voll und ganz zustimmen. Es ist ein schönes Privileg, nach seiner geregelten Arbeitszeit in den Feierabend zu verschwinden und wirklich abschalten können.
Wünsche weiterhin noch viel Erfolg und Freude während der Ausbildung.