Bevor David* in die Schule kam, schöpfte seine Mutter Angela keinen Verdacht. Sie staunte über ihren Sohn, der bereits als Vorschulkind begeistert in die Welt der Zahlen eintauchte und diese sofort begriff. Bügelte Angela oder schnitt Gemüse, sass der Vierjährige neben ihr und liess sich Rechnungsaufgaben stellen. Anfänglich waren sie einfach: zwei plus vier, drei plus fünf. Doch David begriff rasch. Schon bald formulierte Angela Aufgaben, die er schneller beantwortete, als sie im Kopf ausrechnen konnte – etwa: Wie viel ist 466 plus 277?
Mit David freuten sich seine Eltern auf den Schulstart. Endlich sollte sein enormer Wissensdurst gestillt werden. Zu Hause fehlte oft die Zeit, ihm neben den beiden anderen Kindern komplexe Zusammenhänge zu erklären. Doch es kam anders. «Der Schuleintritt war der Beginn eines Albtraums – für ihn wie für uns», sagt die Mutter.
David hat eine eineinhalb Jahre jüngere Schwester: Tamara. Auch bei ihr stutzte Angela früh. Das kleine Mädchen war für ihr Alter äusserst geschickt und aufmerksam. Im Alter von zwei Jahren deckte sie beispielsweise liebend gerne den Frühstückstisch. Die Eierlöffel hatten unterschiedliche Farben. Ohne dass es ihr vorgängig jemand erklärt hatte, legte sie diese nach den Lieblingsfarben der Familienmitglieder an deren Plätze. «Sie beobachtete alles ganz genau», sagt Angela. Doch: Aus dem Mund des Mädchens erklang zwar häufig fröhliches Lachen, aber fast keine Wörter. Tamara sprach kaum.
Als sie drei Jahre alt war, stellten Pädiater eine Spracherwerbsverzögerung fest. Mit der Diagnose begann ein engmaschiges Fördernetzwerk zu greifen. Man bemühte die Logopädie. Dabei zeigte sich: Das Mädchen braucht sprachlich eine gezielte Förderung. Dafür kam es in den Kindergarten einer Sprachheilschule.
Gleichzeitig startete David in der ersten Klasse. Die Lehrerin meldete sich bereits nach wenigen Monaten bei Angela: Ihr Sohn sei gestört, er verweigere sich und müsse von der Schulpsychologin abgeklärt werden. Die Mutter suchte das Gespräch, erklärte, dass die einfachen Rechenaufgaben ihren Sohn langweilen. «Als sie realisierte, was er bereits konnte, war sie völlig überfordert», sagt Angela. Die Eltern willigten ein, David abklären zu lassen. Das Resultat überraschte auch sie: Der Bub wies einen Intelligenzquotienten von über 150 Punkten auf. Ein zweiter Test bestätigte die Hochbegabung.
Zum Vergleich: Der durchschnittliche IQ liegt bei 100, und als normal gilt ein Wert zwischen 85 und 115. Ab 130 spricht man von einer Hochbegabung. Etwa 2 Prozent der Schulkinder weisen einen solch hohen Wert auf.
Die Gemeinde bezahlte David in der Folge ausserschulischen Förderunterricht. In diesen zwei Stunden pro Woche beschäftigte er sich mit anderen Zahlensystemen wie den römischen Ziffern, aber auch mit Kunst. Zudem durfte David am Ende der ersten Klasse in die dritte wechseln. Seine neue Lehrerin reagierte vorerst ablehnend auf den Buben. David sei bestimmt nicht hochbegabt, er könne noch nicht einmal die Schnürlischrift, sagte sie den Eltern.
Angela und ihren Mann stellte sie als überehrgeizige Eltern dar, die ihr Kind pushen wollten. «Diese Haltung begegnete uns in der Folge immer wieder. Dabei lag uns das fern. Das Einzige, das wir deutlich machen wollten, war, dass unser Kind die Inhalte sehr schnell erfasste und sich danach langweilte», sagt Angela. So hatte David den Stoff der zweiten Klasse innert weniger Wochen aufgearbeitet und folgte mühelos dem Unterricht der dritten Klasse. Doch alsbald war der Bub erneut unterfordert. Er beteiligte sich nicht mehr am Unterricht, verschloss sich.
Ein Klassensprung ist eine gute Massnahme, sagt Anuschka Meier. Sie forscht und lehrt an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik unter anderem zu Hochbegabung. Aber das Überspringen einer Klasse reiche nicht. «Es ist ein grosses Missverständnis, dass Hochbegabte ihren Weg alleine schaffen. Sie sind in erster Linie Kinder. Auch sie brauchen Unterstützung und Anregung.» Sie müssten sich ebenfalls Lernstrategien aneignen und lernen, Misserfolge auszuhalten. «Es ist Aufgabe der Schule, ihnen diese Kompetenzen zu vermitteln», sagt Meier.
Bei Tamara war hingegen klar, welche Hilfestellungen sie benötigte. Die Eltern mussten sich nie darum kümmern. Stets waren Fachpersonen da, die Tamara unterstützten. «Die Massnahmen flogen uns nur so zu», sagt Angela. Die Invalidenversicherung übernahm die Kosten für die Logopädie. Und da die Sprachheilschule in einer anderen Gemeinde war, fuhr ein Sammeltaxi die Kindergärtnerin respektive Primarschülerin hin und her. «Es gab ein grosses Angebot für sie. Zudem wussten ihre Lehrpersonen genau, wie sie Tamara einzuordnen hatten – all das, was uns bei David fehlte», sagt Angela.
Während Tamara in der Sprachheilschule gut aufgehoben war, knüpfte David mit den Gleichaltrigen in der Primarschule kaum Kontakt. Sie wollten Fussball oder Verstecken spielen, er hingegen las Wissensbücher. Tamara sei mit ihrem offenen und einnehmenden Wesen – trotz sprachlicher Defizite – von anderen als ganz normal angesehen worden, sagt Angela. «Die gesellschaftliche Haltung gegenüber einer Hochbegabung ist stets: Was für ein Geschenk! Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Ich wünsche das niemandem. Ich empfinde es als Tragödie», sagt sie.
Tamara sei ein fröhliches Kind gewesen. David hingegen habe nur selten rumgeblödelt und sei oft in schweren Gedanken versunken. So sorgte er sich etwa stark um den Zustand des Planeten. Gleichzeitig entwickelte er Spleens. Er zählte etwa die Anzahl der Spalten im Boden und stellte sich die Aufgabe, nicht mehr draufzustehen.
«Ist ein Kind kognitiv nicht angeregt, kann sein psychisches Wohlbefinden aus dem Gleichgewicht fallen», sagt Meier. Sie macht einen Vergleich: «Stellen Sie sich vor, Sie müssten als Person mit guten Deutschkenntnissen monate- oder gar jahrelang mit Japanerinnen oder Chinesen tagein, tagaus in einem Deutschkurs für Anfänger sitzen. Das hält man kaum aus.»
Seien Kinder kognitiv nicht gefordert, zeige sich dies oft in einem schwierigen Verhalten. Sie signalisieren dadurch: Ihnen ist nicht wohl. Meier sagt: «Kinder verbringen pro Woche um die dreissig Stunden in der Schule. Im Unterricht muss deshalb unbedingt etwas angeboten werden, das sie geistig anregt.»
Das bestätigt Regula Haag, Leiterin der Stiftung für hochbegabte Kinder. «Die Themen müssen auf unterschiedlichen Niveaus angegangen werden. Eine Prüfung für alle zum selben Zeitpunkt ist daher sinnlos.» Haag verweist auf die erste Klasse: Dort sei allen klar, dass die Kinder unterschiedlich weit seien. Einige lesen bereits, andere kennen noch keinen Buchstaben. «Vergessen geht, dass sich ein solcher Entwicklungsunterschied durch die ganze Schulzeit durchzieht.» Deshalb drohe gewissen Kindern ein regelrechtes Bore-out.
Einfacher ist es für David erst geworden, als er ans Gymnasium kam. Dort knüpfte er Freundschaften und konnte sich in der Klasse integrieren. «Er fiel nicht mehr auf. Allerdings realisierte niemand, wie intelligent er ist», sagt seine Mutter. Unter den fünf Besten seines Jahrgangs schloss er schliesslich ab und begann an der ETH zu studieren.
David ist inzwischen dreissig Jahre alt. Seit seiner Schulzeit hat sich in den Klassenzimmer einiges verändert. Könnte sich seine Geschichte heute dennoch wiederholen? Meier sagt: «Ich würde es nicht ausschliessen.» Sie hat 2024 in einer Studie die Situation der Begabungs- und Begabtenförderung in der Deutschschweiz und dem Fürstentum Liechtenstein untersucht. «Es besteht nach wie vor grosser Handlungsbedarf», sagt sie. Zum Teil fehlten bis heute das Fachwissen und die Ressourcen für hochbegabte Kinder. Auf deren Bedürfnisse einzugehen, sei ein gesetzlicher Auftrag der Volksschule und nicht «nice to have», betont Meier.
Seit 25 Jahren beraten Regula Haag und ihr Team der Stiftung für hochbegabte Kinder kostenlos Familien. Anfänglich hätten sie gegen 1000 Anfragen pro Jahr gehabt, nun noch etwa 150. «Das zeigt, dass sich in den Schulen vieles zum Positiven verändert hat», sagt Haag. Es gebe in allen Kantonen Begabtenförderung, doch nicht flächendeckend an allen Schulen. Somit sei es eine Lotterie, an welche Schule man komme. «Das ist nicht nur stossend, sondern widerspricht der Bildungsgleichheit», sagt Haag.
Häufig wenden sich Eltern an die Beratungsstelle, wenn das Kind noch nicht einmal in der Schule sei, sagt Haag. Etwa, weil sich ein Dreijähriger selbst das Lesen beibringt oder eine Vierjährige bereits mit vierstelligen Zahlen rechnet. «Die Eltern sind verunsichert und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.» Was die Hochbegabten eint: Sie würden die Eltern und später die Schulen fordern. Haag betont deshalb: «Nur wenn ihre Potenziale abgeholt werden, ist die Hochbegabung ein Geschenk.» Einzig dann liege auch Hochleistung drin. Wer hingegen als sogenannter Mindestleister die Schule abgesessen habe, könne nach neun Jahren nicht plötzlich den Schalter umlegen und sich entfalten.
Für David ist es bis heute schwierig, sich in der Berufswelt einzubringen. Nach seinem Studium hat er sich selbst das Programmieren beigebracht und beschäftigt sich nun intensiv mit künstlicher Intelligenz. «Sobald sich im Job eine Routine einstellt, macht sich in ihm eine quälende Langeweile breit, die ihn blockiert», sagt seine Mutter. Ein Sonderling sei er indes nicht, sozial sei er gut eingebettet und pflege jahrelange Freundschaften.
Und wie erging es Tamara? Sie besuchte auch auf der Sekundarstufe eine Sonderschule. Ihre Klasse bestand aus sechs Kindern. Im Unterricht wurden viele praktische Kompetenzen in Alltagssituationen vermittelt. So musste Tamara beispielsweise mit einer Klassenkameradin einen Ausflug durch die Stadt machen und dabei selbst den Fahrplan lesen und eine Route zusammenstellen. «Die Schule hat ihr Selbstbewusstsein vermittelt und ihre Selbstständigkeit gefördert. Davon profitiert sie bis heute», sagt Angela. Obwohl sie keine Fremdsprache spricht, schaffte Tamara eine Lehre und arbeitet seither erfolgreich im Gesundheitswesen. «Sie steht mitten im Leben und ist auf keine Unterstützung angewiesen», sagt Angela.
Haag überrascht das nicht. Sie verweist auf die ressourcenorientierte Bildung. «Solche Erfolge stärken das Selbstvertrauen des Kindes. Dadurch kann es Schwächen viel besser angehen.» Sie bedauert, dass viele Kinder die Schule verlassen und ganz genau wissen, wo ihre Defizite liegen, aber nicht ihre Stärken kennen. Für sie hängt dies mit der Schweizer Mentalität zusammen – lieber nicht auffallen statt herausragen.
Rückblickend sagt Angela, dass sie sich bei Tamara Sorgen gemacht habe, ob sie jemals selbstständig leben können würde. «Bei David hingegen ging ich davon aus, dass seine Hochbegabung ihm den Weg ebnen würde.» Berührt hat sie – damals wie heute – die enge Verbindung zwischen David und Tamara. Die Frage, wie ein wertschätzender Umgang zwischen Geschwistern gelingt, wenn das eine Sachbücher liest und das andere mit der Sprache kämpft, habe sich nie gestellt. «Bereits als Kinder waren sie sehr eng und verstanden sich teilweise nonverbal», sagt Angela. Bis heute bewundere David seine Schwester, wie sie trotz anfänglichem Handicap ihr Leben meistere.
*alle Namen geändert (aargauerzeitung.ch)
Seit 40 Jahren fordern Reformpädagogen mehr individuelle Förderung, weniger Einheitsprüfungen, Abschaffung von Noten usw.
Aber SVP/FDP wollen halt Menschen in ein Einheitskorsett zwingen. Am Besten alle gleich, nur kein Geld für die Bildung.
Darunter leiden die Kinder die von der Norm abweichen - am unteren wie am oberen Ende der Skala.
Bildung ist der einzige Rohstoff, den wir in der Schweiz sinnvoll abbauen können. Wir sollten viel mehr darin investieren!