Die Ernährung hat sich in der säkularisierten Schweiz schier zur neuen Religion entwickelt. Das Dogma vieler: Ernähre dich gesund, bewusst und nachhaltig.
Doch über die korrekte Auslegung von «gesund, bewusst und nachhaltig» ist ein Streit entfacht – die zentrale Frage: Hilft der Nutri-Score den Konsumentinnen, sich bewusst und gesund zu ernähren, oder führt er sie auf eine falsche Fährte?
Der Glaubensstreit zieht sich bis ins Schweizer Parlament – der Ständerat berät deshalb heute darüber, ob die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz des Nutri-Scores angepasst werden sollten.
Die Grundidee des Nutri-Scores ist, dass Konsumentinnen und Konsumenten ähnliche Lebensmittel miteinander vergleichen können, um so eine möglicherweise gesündere Wahl zu treffen. Doch ob der Nutri-Score die angedachte Funktion optimal erfüllt, ist umstritten. watson hat deshalb mit den Befürworterinnen und Gegnern des Nutri-Scores gesprochen und eine Expertenmeinung eingeholt. Bemerkenswert: Alle Parteien halten fest, dass die Diskussion über den Score – welche man zunächst nicht als gefühlsgeladen wahrnimmt – hochemotional sei.
Beatrice Baumer, Dozentin für Lebensmittelwissenschaften und Ernährung an der ZHAW, erklärt gegenüber watson, welche Vor- und Nachteile bestehen. Sie sagt: «Mehrere Studien zeigen, dass die Konsumenten die obligatorischen Nährwert-Deklarationen oft nicht korrekt interpretieren. Der Nutri-Score vereinfacht das, denn er trägt die Daten aus der Tabelle zusammen und befindet sich gut gekennzeichnet auf der Vorderseite des Produktes. So müssen die Konsumentinnen nicht das Kleingeschriebene auf der Rückseite der Verpackung entziffern.»
Baumer sagt, dass die Konsumentinnen und Konsumenten so auch eine simple Vergleichsmöglichkeit innerhalb derselben Produktkategorie hätten.
Sie hält aber auch fest, dass der Nutri-Score Fehlinterpretationen begünstigen könnte: «Eine gesunde Ernährungsweise bedeutet, dass man sich abwechslungsreich und vielfältig ernährt, kein Produkt ist perfekt. Das heisst im Umkehrschluss: Nur weil man immer nur Produkte mit Nutri-Score A isst, bedeutet das nicht, dass man sich gesund ernährt.»
Weiter erklärt Baumer: «Es ist nicht immer nachvollziehbar, weshalb ein Produkt schlecht abschneidet, vielleicht aus Gründen, die für einzelne Personen nicht relevant sind.» Sie erklärt: «Der Nutri-Score orientiert sich am Durchschnitt. Der Kalorienbedarf beispielsweise ist bei jedem Mensch unterschiedlich, das heisst, es gibt Personen, die sich kalorienreicher ernähren können. Wenn man einen tiefen Blutdruck hat, kann man auch mehr Salz verzehren, als wenn dies nicht der Fall ist. Diese Faktoren berücksichtigt der Nutri-Score nicht.»
Auch Hersteller von gewissen Produkten könnten benachteiligt werden: «Es gibt einige Produktkategorien, wie beispielsweise Käse, die nur schlechte Nutri-Scores bekommen, dennoch haben sie durchaus einen Platz in einer abwechslungsreichen Ernährungsweise.»
Sie konkretisiert: «Für gewisse Produktkategorien ist es einfacher, Produkte zu optimieren, um den Nutri-Score zu verbessern als für andere. Zur ersten Kategorie gehören etwa Milchfrischprodukte: Fett- und Zuckeranteil sind leicht zu reduzieren und der Proteinanteil ist leicht zu erhöhen, nach der Optimierung schneidet man besser ab. Für andere Produkte, wie beim Käse, ist es schwierig, denn die Fett- und Salzanteile müssen gesetzlich vorgegebene Richtwerte erfüllen.»
Für die ständerätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur scheint der Nutri-Score mehr Nach- als Vorteile zu haben. Sie hat eine Motion eingereicht, in der sie den Bundesrat dazu auffordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz des Nutri-Scores so zu legen, dass dessen problematischen Effekte vermieden würden.*
Die Kommission ist der Meinung, dass der Nutri-Score zu stark vereinfacht sei, er würde Verarbeitungsgrad, Zusatzstoffe, Nachhaltigkeit, Produktionsmethode und Herkunft nicht oder zu wenig berücksichtigen.
Mitte-Ständerat Benedikt Würth, Präsident der ständerätlichen Kommission, sagt gegenüber watson: «Wichtig ist eine ausgewogene Ernährung. Der isolierte Blick auf ein Lebensmittel ist problematisch.»
Er erklärt: «Es ist fragwürdig, wenn ein hochverarbeitetes Produkt wie beispielsweise ein Cola Zero, welches praktisch aus künstlichen Zusatzstoffen besteht, besser abschneidet als ein Naturprodukt wie Apfelschorle. Das löst Widerstand gegen den Score aus.»
Die Nutri-Score-Kennzeichnung ist freiwillig – in der Motion wird gefordert, dass dies auch so bleibt. Weshalb? «Es gibt Signale, dass man verbindlicher werden möchte und diesem Label noch mehr Gewicht geben möchte. Der Bund relativiert das natürlich. Wir finden aber, es sollte Sache der Marktakteure und Konsumenten bleiben», erklärt Würth.
Er fügt an: «Der Bund sollte sich in seiner Kommunikation weiterhin auf die Lebensmittelpyramide fokussieren, so kann er die Bevölkerung über eine ausgewogene Ernährung informieren. Ein Lebensmittel ist keine Waschmaschine, die man mit einer Energieetikette vollumfänglich kategorisieren kann.»
Anders als Würth befürwortet Rebecca Eggenberger von der Westschweizer Konsumentenschutzorganisation FRC eine flächendeckende Anwendung des Scores und sagt: «Der Nutri-Score ist eine von verschiedenen Massnahmen, mit denen die Ernährung und die Gesundheit der Bevölkerung positiv beeinflusst werden können.»
Eggenberger ist der Meinung, dass die Bevölkerung nicht ausreichend über den Nutri-Score informiert sei, dies schaffe Raum für Fehlinformationen, Unwissenheit oder Unklarheiten.
Sie folgert: «Es ist daher von grundlegender Bedeutung, dass weiterhin über die Funktionsweise des Nutri-Scores informiert wird. In Frankreich gab es eine breit angelegte Informationskampagne, die den Verbrauchern ermöglichte, besser zu verstehen, wie der Nutri-Score verwendet wird.»
Viele Menschen würden nicht wissen, dass der Nutri-Score dazu diene, Produkte der gleichen Kategorie miteinander zu vergleichen. Andere würden denken, dass es sich um eine Nährwertangabe handle und dass man schlecht bewertete Produkte nicht kaufen solle, sagt Eggenberger.
Sie erklärt: «Diese Annahmen sind jedoch falsch, der Nutri-Score ist eine Einkaufshilfe, die es jedem ermöglicht, seinen Teller im Lichte seines Nährstoffbedarfs ausgewogen zu gestalten.»
Dem Argument, dass der Nutri-Score zu stark vereinfacht sei, entgegnet sie: «Alle fünf Jahre wird der Algorithmus überarbeitet, um dem wissenschaftlichen Fortschritt Rechnung zu tragen. Diese Arbeit wird von einem unabhängigen wissenschaftlichen Ausschuss durchgeführt. Diese Unabhängigkeit ist eine weitere Stärke des Nutri-Scores, denn er ist frei von jeglicher kommerzieller Einflussnahme.»
Sie erklärt: «Bei der jüngsten Überarbeitung sowohl für Lebensmittel als auch für Getränke wurden die Punktzahlen für einige Produkte verfeinert und bestimmte Aspekte stärker berücksichtigt. Eine kontinuierliche Verbesserung ist also durchaus denkbar.»
Eggenbergers finales Argument ist pragmatisch: «Ich würde mir auch wünschen, dass die Verbraucher ein ‹perfektes› Werkzeug zur Verfügung haben, das nicht nur die Nährwerte, sondern auch den Verarbeitungsgrad, bestimmte Zusatzstoffe und Süssungsmittel, die in den Lebensmitteln enthalten sind, berücksichtigt. Aber ein solches Tool wird es wahrscheinlich nie geben, da die Berücksichtigung all dieser Faktoren meiner Meinung nach schwierig ist.»
*Der Ständerat hat die Motion angenommen. Als Zweitrat folgt der Nationalrat.
Aber was ist die Alternative? Gar nichts? Eine Schweizer Lösung, die dann nur hier gilt und vermutlich auch nicht besser informiert?
Immerhin steckt hinter nutri score keine private Firma sondern schlussendlich der französische Staat. Auch nicht perfekt, aber definitiv besser als 2-3 der Nahrungsmittel Grosskonzerne die sich zusammentun.
Und je mehr Verbreitung da ist/wäre, desto mehr wird auch genauer hingeschaut.
Von mir persönlich also ein go, auch wenn ich es nicht brauche.