Schweiz
Solothurn

Sexueller Missbrauch: Der ungewöhnliche Weg einer kleinen Kirchgemeinde

Priester als Sex-Verbrecher: Der ungewöhnliche Weg einer kleinen katholischen Gemeinde

In einem Dorf im Kanton Solothurn meldet sich ein über 70-Jähriger: Er sei als Kind vom damaligen Priester sexuell missbraucht worden. Gab es noch mehr Opfer?
16.12.2019, 15:2417.12.2019, 09:27
Annika Bangerter / ch media
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In Argentinien wurden zwei katholische Priester wegen Missbrauchs verurteilt. (Symbolbild)
Bild: AP

Als Paul* neun Jahre alt war, streifte er sich erstmals das Gewand eines Ministranten über. Er war stolz. Und arglos. Nach der Messe bat ihn der Pfarrer, zu bleiben. Er müsse etwas mit ihm besprechen. In der Sakristei befahl er ihm, die Hosen runterzulassen. Es war der erste Übergriff von vielen. Woche für Woche verging er sich an Paul. Jahr für Jahr.

Mehr als 60 Jahre später, im November 2018, hielt John Steggerda einen Brief in der Hand, dessen Inhalt ihn fast ein Jahr lang beschäftigen würde. Der Präsident der Katholischen Kirchgemeinde Trimbach las: «Guten Tag Herr Steggerda, ich bin heute 71 Jahre alt, in Trimbach aufgewachsen, 1967 weggezogen (...). Nach Jahrzehnten des Verdrängens habe ich kurz vor meiner Pensionierung mein Schweigen gebrochen und erstmals den im Kindesalter erlittenen sexuellen Missbrauch aussenstehenden Personen anvertraut. Es geht um den längst verstorbenen Alfred O. Amiet (1898–1966), Pfarrer in Trimbach.»

Der Kirchgemeindepräsident fiel aus allen Wolken. Alfred Amiet: Ein Priester, dem er als Zugezogener nicht mehr begegnet war. Und dennoch schien er ihn zu kennen. Aus Geschichten älterer Dorfbewohner. Der Ruf eines Wohltäters hatte seinen Tod überdauert. Er baute die Schulden der Kirchgemeinde ab und die Mauritiuskirche im Dorf um. Damit schuf er sich ein Denkmal. Ein Denkmal, das mit dem Brief plötzlich Risse bekam.

Seit mehr als 25 Jahren erschüttern Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch die katholische Kirche. Irland, USA, Chile, Australien: Nach und nach brachen Opfer ihr Schweigen. Die geschilderten Übergriffe waren massiv, die Aufarbeitung seitens der katholischen Kirche oft katastrophal. Galt sie früher als moralische Instanz, verlor sie an Glaubwürdigkeit – und rutschte in eine ihrer grössten Krisen. Die Schweiz erreichte die Missbrauchsdebatte eher spät. 2002 gründete die Bischofskonferenz ein Fachgremium und erliess Richtlinien für die Diözesen.

Eine Publikation im Pfarrblatt ruft Betroffene dazu auf, sich zu melden

Acht Jahre später, im Jahr 2010, meldete sich Paul beim Bistum Basel. Die Ansprechperson schlug ihm vor, einen Antrag für eine Psychotherapie zu stellen. Kurze Zeit später bekam Paul jedoch die Absage: «Bezüglich einer Entschädigungszahlung sehen die Verantwortlichen des Bistums (das ja keine Kirchensteuern einnimmt) nur die Möglichkeit, an die Kirchgemeinde von Trimbach zu gelangen.» Wütend und enttäuscht zog sich Paul zurück – und gab seinen Kirchenaustritt.

An die Kirchgemeinde in Trimbach wandte er sich nicht. Wieso? «Ich hatte Angst davor, wie ein Laiengremium auf meine Geschichte reagieren würde», sagt er. Kirchenräte verwalten die Einkünfte der Gemeinde oder besorgen den Gebäudeunterhalt. Sie sind aber in der Regel keine Fachleute im Umgang mit sexueller Gewalt. Anders Kirchgemeindepräsident John Steggerda. Der Sozialarbeiter leitet bei Pro Infirmis die kantonale Geschäftsstelle Aargau-Solothurn und hat für einen Sportverband Richtlinien erarbeitet, um sexuelle Übergriffe zu verhindern.

Doch davon wusste Paul nichts. Es sollte Jahre dauern, bis er bereit war, sich jemandem ausserhalb des engsten Kreises anzuvertrauen. Er vertiefte sich in Bücher über das Christentum, über die katholische Kirche, über Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt. Nach und nach fand er Wörter, um das jahrelang Unaussprechliche aufzuschreiben. Doch Ruhe fand er nicht. Deshalb bat er John Steggerda um ein Gespräch.

Ecce homo
Bild: shutterstock.com

Im Januar 2019 trafen sich die beiden Männer erstmals, redeten lange. Paul fragte: War er das einzige Opfer – oder verging sich Amiet an weiteren Kindern? Diese Frage lasse ihm, Paul, keine Ruhe. Gemeinsam mit Antonia Hasler, Leiterin des Pastoralraums, entschloss sich John Steggerda zu einem aussergewöhnlichen Schritt: Im Pfarrblatt der römisch-katholischen Kirche berichteten sie unter dem nüchternen Titel «Aus dem Kirchgemeinderat Trimbach-Wisen» über den sexuellen Missbrauch von Amiet.

Der Kirchgemeinderat fühle sich verpflichtet, darüber zu informieren. Sie entschuldigten sich – und riefen Betroffene dazu auf, sich zu melden. Den Täter nannten sie mit vollen Namen: Alfred Otto Amiet.

Die kleine Kirchgemeinde macht alles richtig, im Gegensatz zum grossen Bistum

Dieses Vorgehen ist ungewöhnlich. Das Bistum Basel, zu dem die Gemeinde gehört, wusste auf Anfrage von keinem vergleichbaren Fall. John Steggerda war für Paul ein Glücksfall. In der kleinen Kirchgemeinde fand er jene Ansprechperson, die alles richtig machte. Das grosse Bistum war zuvor an dieser Aufgabe gescheitert. So entschuldigte sich Steggerda beim ersten Treffen bei Paul für den Missbrauch. Auch bot er ihm unbürokratisch an, Kosten für eine eventuelle Psychotherapie zu übernehmen. «Vor mir sass ein Mann, dem es nie um Rache ging, sondern um die Anerkennung des erlebten Leids», sagt Steggerda.

Sein Vorgehen löste in der Kirchgemeinde Fragen aus, wie: Stimmt die Geschichte von Paul auch wirklich? Kommt das Geld nicht einem Schuldeingeständnis gleich, das weitere Forderungen auslösen könnte? «Es waren spontane Reaktionen in einem überforderten Laiengremium», sagt Steggerda. Sie zeigen aber auch, wie rasch Überforderung in Zweifel oder Ablehnung kippen kann. Eine Haltung, die seitens der Opfer verheerend wirkt, weil sie ihre Ohnmacht nährt.

Theologin Antonia Hasler leitet den Pastoralraum, zu dem auch Trimbach-Wisen gehört. In ihrer Funktion ist sie Teil des Kirchgemeinderats. «Ich war froh um die Klarheit von John Steggerda», sagt sie. Sie habe von Anfang an die Publikation unterstützt. «Auch im Bewusstsein, dass die Nachricht eine Lawine auslösen kann. Doch der müssen wir uns stellen. Das ist das Mindeste, was wir für die Opfer tun können», sagt sie.

Die Übergriffe fanden über Jahrzehnte statt

Nach der Veröffentlichung im Pfarrblatt war klar: Alfred Amiet verging sich an mehreren Kindern und Jugendlichen. Die Übergriffe fanden über Jahrzehnte hinweg statt. Ein weiterer Betroffener meldete sich persönlich. Zudem kontaktierten Angehörige von zwei schon verstorbenen Opfern den Kirchgemeinderat. «Wir wissen nun von vier Opfern – und vermuten ein weiteres, das bereits gestorben ist», sagt John Steggerda.

Das sei eine hohe Zahl, wenn man beachte, dass die Betroffenen betagt sind. Alfred Amiet war zwischen 1937 und 1964 als Pfarrer in Trimbach tätig. Zu einer Zeit, in der Pfarrer mit «Hochwürden» angesprochen wurden, in der Sexualität tabuisiert und sexuelle Missbräuche in der Kirche schlicht undenkbar waren. Die Betroffenen blieben in ihrer Wortlosigkeit teilweise ein Leben lang alleine. Ein Opfer habe sich erst auf dem Sterbebett einer Spitex-Mitarbeiterin anvertraut, sagt Steggerda.

Betretenes Schweigen oder Ruf nach Gerechtigkeit

Aus seinem Briefkasten zog Steggerda auch einige negative Reaktionen. In einem Brief las er: Es sei schlimm, dass das Erbe von Pfarrer Amiet beschmutzt werde. Er habe viel für die Gemeinde getan. Etwa, jungen Männern von Trimbach das Studium ermöglicht.

An der Beerdigung von Amiet hiess es zudem: «Der Betreuung der heranwachsenden Jugend widmete er seine ganze Aufmerksamkeit.» Die Reden sind überliefert, alle streichen das grosse Engagement des Klerikers für die Kinder im Dorf hervor. Es sind Aussagen, die Jahrzehnte später Grauenvolles vermuten lassen. Auch Paul bekam die gymnasiale Ausbildung an einem Internat von Amiet bezahlt.

Innerhalb der Kirchgemeinde habe sie drei unterschiedliche Reaktionen erlebt, sagt Pastoralraumleiterin Antonia Hasler. Betretenes Stillschweigen, der Ruf nach Gerechtigkeit für die Opfer und eine Kenntnisnahme im Sinne «es ist passiert, aber der Täter ist tot». Alles in allem sei es relativ ruhig geblieben, sagt Hasler. Zu ruhig. «Ich hätte mir mehr Rückmeldungen und eine Auseinandersetzung gewünscht.»

Aufgewühlt haben die Übergriffe auch den heutigen Priester des Pastoralraums. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, um auf keinen Fall mit dem Täter verwechselt zu werden. Dessen Übergriffe lösen bei ihm «Widerwillen und Abscheu» aus. Er habe es fast nicht geschafft, den schriftlichen Bericht von Paul aufzuschlagen. «Beim Lesen verstand ich, was in einem Menschen vorgeht, der das alles jahrelang mit sich herumtragen musste und nicht darüber sprechen konnte», sagt der heutige Priester.

Bistum entschuldigt sich für Fehler, aber nicht für Missbrauch

Als Paul 2011 beim Bistum Basel seinen Missbrauch meldete, wurde er an die Kirchgemeinde Trimbach «abgeschoben», wie der Leiter des Fachgremiums sexueller Übergriffe des Bistums im Nachhinein eingestand. Für das «unprofessionelle und fehlerhafte Handeln» bei der Kontaktaufnahme entschuldigte sich auch Bischof Felix Gmür. Das Bistum sei damals «nicht vorbereitet und überfordert» gewesen. Wie viele Missbrauchsopfer das Bistum Basel vor 2016 an Kirchgemeinden verwiesen hatte, weiss es nicht.

Heute käme ein solches Vorgehen nicht mehr vor, heisst es beim Bistum auf Anfrage. Seit 2016 gibt es für Opfer von verjährten Übergriffen einen Fonds für Genugtuung. «Der Prozess ist klar definiert und gut verankert», schreibt der Bistums-Sprecher. Auf Wunsch würden Opfer begleitet und ihnen die Akten zu den Tätern offengelegt.

Als der Fonds 2016 jedoch eingerichtet wurde, informierte das Bistum Paul nicht direkt. Bis heute hat er keine persönliche Entschuldigung seitens des Bistums für den erlebten Missbrauch erhalten. Im März entschuldigte sich der Leiter des Fachgremiums bei Paul dafür, dass niemand mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Er sei tief beeindruckt vom umfangreichen Bericht, den ihm Paul geschickt hatte. Gleichzeitig teilte er ihm mit: «Entschuldigen für sein Verhalten kann sich nur der Täter selbst.» Eine Haltung, die man in Trimbach nicht teilt.

*Name geändert

Hinweis: Paul* hat eine Selbsthilfegruppe für Opfer von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Umfeld gegründet. Details unter: www.selbsthilfesolothurn.ch (aargauerzeitung.ch)

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35 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Füürtüfäli
16.12.2019 15:51registriert März 2019
Ohne Aufhebung des Zölibats wird das nichts werden.

Katholische Priester sollen heiraten und Kinder grossziehen, anstatt Ehepaaren Ratschläge zu geben, wie sie leben und ihre Kinder grossziehen sollen.

Schizophrenes Konzept mit dem Zölibat.

Und das traurigste: Jede andere Organisation wäre weltweit geächtet und verboten...
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homo sapiens melior
16.12.2019 16:00registriert Februar 2017
Was sagt es über die weltliche Struktur einer Religion aus, wenn sie Anlaufstellen und Fonds über sexuellen Missbrauch durch ihre Priester und Angestellten braucht? Ich sage absichtlich "weltliche Struktur" und nicht "Glaube". Denn der Glaube hat nichts damit zu tun, sag ich mal als Atheist. Es sind kranke Menschen, die eben diese weltliche Struktur ausnützen, um ihre abnormalen Triebe an Unschuldigen zu befriedigen.
So lange Organisation und Struktur nicht geändert werden, wird sich auch das nicht ändern.
Woran der Priester wohl während der Predigt gedacht hat?
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insert_brain_here
16.12.2019 15:55registriert Oktober 2019
Es ist immer wieder verstörend, dass viele Menschen den Gedanken jemandem zu Helfen der diese Hilfe vielleicht nicht verdient hat als abschreckender empfinden als die Vorstellung einem Opfer weiteres Unrecht anzutun. Was der Typ am Kreuz wohl dazu sagen würde...
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