Marie (Name geändert) steht auf einem Balkon im Weiler Roderis in Nunningen SO und raucht ihre letzte Zigarette. Ihr Blick schweift über die Jurahügel. In einer Baumkrone vor dem Haus glitzern Tausende Wassertropfen, welche die Sonne aus dem Raureif der Nacht geschmolzen hat. Marie bläst den Rauch in die kalte Morgenluft und lächelt. Sie ist erleichtert, dass sie endlich sterben kann.
Marie ist 44 Jahre alt und wohnte in Marseille. Ihr Leben war von Anfang an von Problemen geprägt. Ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter kümmerte sich nicht richtig um sie und starb früh. Als Kind wurde sie umhergeschoben und lernte nie, Beziehungen aufzubauen. Schon als Kind litt sie unter Depressionen, die bis heute andauern. Marie probierte viele Therapien aus, doch keine half.
Deshalb sah die Französin nur einen Ausweg: eine Reise in die Schweiz, ins einzige Land, wo Suizidhilfe für Ausländer legal ist.
Marie ist ein untypischer Fall. Sie ist jung und ihre Hauptdiagnose besteht aus einer Depression. Doch in der Schweiz ist ihr assistierter Suizid legal, weil dafür nur eine Voraussetzung erfüllt sein muss: Die Patientin muss urteilsfähig sein. Ein Psychiater bestätigte dies.
Marie geht zurück ins Zimmer und trennt sich von ihrem Besitz. Sie zerschneidet ihre Kreditkarte, zieht die SIM-Karte aus ihrem Smartphone und legt ihre Wohnungsschlüssel, ihre Dokumente sowie ihre Ausweise auf den Tisch. Daneben steht ein braunes Fläschchen mit 15 Gramm des Sterbemittels Natrium-Pentobarbital und der Aufschrift «Dosis letalis».
Freitag, 29. November 2024, 11.21 Uhr: Marie legt sich auf das Bett und bestätigt, dass sie sterben will. Ein Pflegefachmann legt ihr eine Infusion. Zuerst versucht er es im Handgelenk. Doch die Venen ziehen sich zusammen. «Hast du Angst?», fragt er sie. Marie schüttelt den Kopf. Sie wirkt ruhig und entschlossen. Der Pfleger setzt die Infusion in die rechte Ellbogenbeuge. Jetzt klappt es.
11.28 Uhr: Der Pfleger gibt ihr den Schlauch der Infusion und zeigt ihr ein Rädchen. Ohne zu zögern, dreht sie es auf. «Ich spüre es», sagt sie. «Es ist magisch.» Ihre letzten Worte.
11.38 Uhr: Der Pfleger stellt offiziell ihren Tod fest.
11.41 Uhr: Ruedi Habegger, der Präsident der Suizidhilfeorganisation Pegasos, wählt auf seinem Handy die Nummer 117. «Polizeinotruf», antwortet eine Männerstimme. Der Freitodaktivist sagt: «Hier ist Habegger.» Der Polizist reagiert, wie wenn er einen alten Bekannten hört. Der Name und die Stimme genügen ihm, um zu wissen, worum es geht. Er nimmt die Personalien der verstorbenen Person auf und bietet einen Fahnder und die Rechtsmedizin auf.
Gemäss der Strafprozessordnung handelt es sich um einen «aussergewöhnlichen Todesfall», der von Amtes wegen als möglicher Kriminalfall untersucht wird. Deshalb rücken in der Regel mindestens ein Polizist und ein Rechtsmediziner aus. In anderen Kantonen kommen weitere Einsatzkräfte hinzu.
Diese Untersuchungen sind eine doppelte Belastung. Für die Angehörigen, weil sie in einem intimen Moment in einen Polizeieinsatz geraten. Und für die Staatskasse, weil selbst bei einem schlanken Aufgebot wie in Solothurn Kosten von 3000 Franken pro Fall entstehen.
Der «aussergewöhnliche Todesfall» ist heute eigentlich nicht mehr aussergewöhnlich. Mehr als 500 Ausländer sterben in der Schweiz jedes Jahr mit einer Suizidhilfeorganisation. Hinzu kommen jährlich 1600 Schweizer, die einen assistierten Suizid wählen.
Der Kanton Solothurn ist erst seit Februar dieses Jahres mit dem Problem konfrontiert. Seither führt die Organisation Pegasos in einem Gebäude in Roderis, das ursprünglich als Gästehaus eines Landgasthofs geplant war, assistierte Suizide durch.
Pegasos fährt den Betrieb am neuen Standort langsam hoch. Derzeit sterben hier etwa zwei Personen pro Woche. Künftig rechnet die Organisation mit einer Verdoppelung, mit 220 Fällen pro Jahr. Heute führt sie einen Teil davon an ihrem Standort in Liestal durch. Die 220 Fälle würden für die Solothurner Staatskasse Zusatzausgaben von 660'000 Franken bedeuten.
Andere Kantone haben jahrelange politische Debatten geführt, um die Kosten auf die Suizidhilfeorganisationen abzuwälzen – ohne Erfolg. Solothurn hingegen hat nun innert kurzer Zeit ein neues Vorgehen vorbereitet, das am kommenden Montag starten wird. Marie war die Letzte, die das alte Prozedere ausgelöst hat.
Die neuen Abläufe sind in einem Dokument festgehalten, das die «Schweiz am Wochenende» gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip von der Solothurner Staatsanwaltschaft verlangt und erhalten hat. Es handelt sich um eine «Absichtserklärung» zwischen vier Parteien: Polizei, Staatsanwaltschaft, Institut für Rechtsmedizin und Pegasos. Der Unterschied zu einer Vereinbarung besteht darin, dass die Behörden das Vorhaben jederzeit abbrechen könnten.
Pegasos wird der Alarmzentrale der Polizei weiterhin jeden Todesfall melden. Doch die Behörden werden in der Regel auf einen Augenschein in Nunningen verzichten, weil sie diesen Sterbeort bereits kennen. Dafür dokumentiert Pegasos den Sterbeprozess neu auf Video und schickt der Staatsanwaltschaft die Aufzeichnung. Darin wird zu sehen sein, wie die Person auf dem Bett das Rädchen selber aufdreht.
Die Rechtsmedizin untersucht den Leichnam künftig in ihrem Institut in Basel. Pegasos organisiert und finanziert den Transport dorthin und übernimmt auch die Kosten für die Untersuchung.
Die Staatsanwaltschaft wird die Fälle anhand der eingereichten Akten nur noch am Schreibtisch überprüfen. Sie behält sich in der Absichtserklärung aber vor, stichprobenweise mit dem bisherigen Aufgebot ins Sterbezimmer auszurücken.
Was der Kanton Solothurn nun einführt, galt bisher in der Schweiz als unmöglich. Dies veranschaulicht die Debatte im Nachbarkanton Baselland. Dieser ist vom Sterbetourismus besonders betroffen, weil in Liestal zeitweise gleich zwei Suizidhilfeorganisationen Ausländer begleiteten: Pegasos und Eternal Spirit, die Organisation der Ärztin Erika Preisig. Sie ist Habeggers Schwester.
Ein SVP-Landrat verlangte, dass die Organisationen die Untersuchungskosten übernehmen müssen. Doch der Rechtsdienst des Kantons kam zum Schluss, dass die Strafprozessordnung die Kosten regle. Ein Kanton könne daran nichts ändern. Dafür wäre das Bundesparlament zuständig. Dieses erkannte allerdings keinen Handlungsbedarf und verwarf eine SVP-Initiative.
Solothurn hat nun einen Ausweg gefunden: Die Suizidhilfeorganisation übernimmt die Kosten der Rechtsmedizin nicht zwangsweise, sondern freiwillig. Gleichzeitig spart die Organisation Ausgaben für ihr Personal, das nicht mehr auf die Polizeieinsätze warten muss.
Hansjürg Brodbeck ist Solothurner Oberstaatsanwalt und verantwortet die Absichtserklärung. Auf Anfrage erklärt er, warum er im neuen Vorgehen nur Vorteile sieht: «Wir erhalten ein besseres Beweisresultat. Gleichzeitig entlasten wir die Staatskasse und schonen die Personalressourcen.» Denn der Auftrag gemäss Strafprozessordnung bestehe darin, bei jedem aussergewöhnlichen Todesfall zu untersuchen, ob ein Delikt vorliegt. Mit der Videodokumentation habe er bessere Beweise als bisher.
Zur rechtlichen Situation sagt Brodbeck: «Das Phänomen, dass ausländische Staatsangehörige gezielt in die Schweiz einreisen, um hier Suizid zu begehen, ist neu und war dem Gesetzgeber nicht bekannt.» Deshalb handle es sich um eine Gesetzeslücke. Diese schliesse der Kanton nun nach dem Verursacherprinzip.
Der Fall von Marie zeigt den Leerlauf des bisherigen Verfahrens auf. Der Fahnder und die Rechtsmedizinerin untersuchen die Situation im Sterbezimmer zwar akribisch und stellen mehrere Fragen. Doch dann stellen sie das Offensichtliche fest: alles in Ordnung. Und sie geben den Leichnam frei.
Marie hat entschieden, dass ihre Asche in einem Schweizer Wald verstreut werden soll. Angehörige oder Freunde hat sie keine. Sie hat zwar eine Halbschwester, die sie aber nicht informiert hat. Am Freitagmorgen hinterlässt sie ihr auf einem Notizblatt diese Worte:
«Ich schreibe dir, um dir zu sagen, dass ich heute Morgen sterben werde. Das ist meine Entscheidung, die ich mir sorgfältig überlegt habe und an die ich schon lange denke. Eine Schweizer Organisation hilft mir dabei. Du wirst meinen Pass, meine Wohnungsschlüssel, meine Todesurkunde und eine Instruktion für die Abmeldung bei den französischen Behörden erhalten. Ich danke dir dafür. Bonne continuation.» (aargauerzeitung.ch/lyn)
Seit wann darf ein Pfleger offiziell den Tod feststellen wie es im Bericht steht?
Das muss in der Schweiz doch ein Arzt sein.
Hat etwas geändert oder war der Pfleger Arzt? Denn je nachdem wo der Arzt das Kreuzlein setzt, muss die Polizei kommen oder nicht.