Zwölf Jahre war er das Gesicht der Schweizer Sozialdemokratie: Der Freiburger Christian Levrat, geboren 1970, Universitätsabschluss in Rechts- und Politikwissenschaften, Vergangenheit als Gewerkschafter. Ab 2003 sass er im Nationalrat. 2008 wurde er Parteichef, 2012 wählten in die Freiburgerinnen und Freiburger in den Ständerat.
Nun sucht die SP Schweiz eine neue Frau oder einen neuen Mann an der Spitze: Christian Levrat gab am Dienstag seinen Rücktritt bekannt. Ein Parteitag im April 2020 in Basel wird über Levrats Nachfolge befinden. Wer am Ende das Rennen macht, ist derzeit noch offen. Klar ist lediglich, dass verschiedene Kriterien dabei eine Rolle spielen werden.
Bei den Wahlen 2019 erzielte die SP Schweiz mit einem Wähleranteil von 16.8 Prozent das schlechteste Ereignis seit der Einführung des Proporzwahlrechts vor 100 Jahren. Im Nationlrat gingen vier Sitze verloren, im Ständerat drohen sogar noch grössere Einbussen. Die Grünen, bisher klarer Juniorpartner im linken Lager, sind die Partei der Stunde – während die SP weder von der Frauen- noch von der Klimabewegung profitieren.
Auch wenn weite Teile der Partei Christian Levrat Respekt zollen für seinen Einsatz, sein strategisches Geschick und seine Fähigkeit, die verschiedenen Flügel der Partei zusammenzuhalten: Der Wunsch nach einem Neustart ist gross. Die neue Person an der Spitze soll frischen Wind, eine thematische Erneuerung und einen anderen Führungsstil mitbringen, finden viele SPler.
Der neue Präsident oder die neue Präsidentin der SP Schweiz braucht nicht nur das Vertrauen der Parteikolleginnen und -kollegen unter der Bundeshauskuppel. Er oder sie muss auch an der Parteibasis akzeptiert sein. Parteipräsidentinnen und -präsidenten sind immer auch die obersten Kümmerer ihrer Partei. Man muss raus zur Basis in den Kantonen und sich die Sorgen und den Unmut der einfachen Mitglieder anhören – gerade nach einer Wahlniederlage. Wer sich in der Vergangenheit vor solchen Aufgaben gedrückt hat, startet mit einem Nachteil ins Rennen.
Was Ersteres anbelangt, muss die Nachfolgerin oder der Nachfolger von Christian Levrat grosse Fussstapfen ausfüllen. Der Freiburger galt als einer der taktisch begabtesten Parlamentarier. Immer wieder gelang es ihm, wichtigen Vorlagen einen SP-Stempel aufzudrücken. Insbesondere in seinen Spezialgebieten, der Sozial-, Wirtschafts- und Aussenpolitik konnte sich Levrat auf seine Dossierfestigkeit verlassen.
Die Bekanntheit kommt beim SP-Präsidium natürlich automatisch mit dem Amt – Einladungen in die «Arena» und Interviews mit zahlreichen Medien sind garantiert. Dennoch ist es für Levrats Nachfolge von Vorteil, wenn sie oder er bereits eine national bekannte Figur ist – die ihre Medientauglichkeit unter Beweis gestellt hat.
Die SP ist traditionellerweise eine debattierfreudige Partei – wenn man es positiv formulieren will. Negativ formuliert drohen die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Flügeln die SP in zentralen Dossiers aufzureiben. Etwa in der Europafrage, wo der Gewerkschafts- und der Reformflügel beim Rahmenabkommen miteinander über Kreuz liegen. Auch bei Themen wie der Armee oder dem Strafrecht liegen die Positionen der Vertreter vom linken und vom rechten Rand der Partei teilweise weit auseinander.
Christian Levrat, selber vom Gewerkschaftsflügel stammend, gelang es in seinen zwölf Amtsjahren meistens, die verschiedenen Strömungen beieinander zu halten. Im Rahmen der Diskussion ums Rahmenabkommen wuchs jedoch der Frust im Reformflügel über den als zu gewerkschaftsnah empfundenen Kurs der Parteispitze. Wer Levrat nachfolgt, hat einen Vorteil, wenn er oder sie nicht von den Rändern der Partei herkommt und als integrative Person gilt, welche zwischen den verschiedenen Flügeln vermitteln kann.
Seit dem Rücktritt von Christiane Brunner 2004 wird die SP von Männern geführt. Seit 2012 ist mit dem Fraktionspräsidium auch das zweitwichtigste Parteiamt von einem Mann besetzt: Erst Andy Tschümperlin (bis 2015), dann Roger Nordmann. Nordmann wird auch in der neuen Legislatur Fraktionschef bleiben. Die Forderung, nun gehöre eine Frau an die Spitze der SP, ist dementsprechend laut zu hören innerhalb der Partei.
Die wenigen Männer, die bisher zögerlich ihr Interesse bekundet haben, haben denn auch die Idee eines Co-Präsidiums ins Spiel gebracht – eine Doppelspitze mit einer Frau und einem Mann. Und es spricht alles dafür, dass das Parteipräsidium nach vier Jahren mit zwei Romands in den Spitzenämtern (Levrat/Nordmann) an eine Person aus der Deutschschweiz geht.
Am Tag des Rücktritts von Christian Levrat wagt sich noch niemand aus der Deckung. Konkrete Kandidaturen liegen noch keine vor, allerdings haben verschiedene prominente Sozialdemokratinnen bekundet, sie würden sich eine Kandidatur überlegen.
Zwar sitzt die 40-jährige Bernerin erst seit Mai 2018 im Nationalrat, als sie für die in die Berner Regierung gewählte Evi Allemann nachrutschte. Doch Wasserfallen kennt den Berner Politbetrieb bestens. Zwischen 2012 und März 2018 amtete sie gemeinsam mit Leyla Gül als Co-Generalsektetärin der SP Schweiz.
Wasserfallen gilt als gute Organisatorin und kennt das Innenleben der Partei bestens. Die studierte Politologin und Ökonomin engagierte sich stark für den Frauenstreik. Politisch ist sie in der Mitte der Partei zuhause. Der abtretende Parteichef Christian Levrat hält grosse Stücke auf Wasserfallen. Diese Nähe zu Levrat könnte ein Handicap sein: Will die Basis einen klaren Neustart, ist Wasserfallen dafür wohl die falsche Kandidatin.
Bereits seit 2011 sitzt die St. Gallerin im Nationalrat, seit 2012 ist sie Vizepräsidentin der SP Schweiz. Als Präsidentin des St. Galler Gewerkschaftsbundes und des Personalverband des Bundes ist sie stark in der Gewerkschaftsbewegung verankert. Gysi gilt als dossierfest und sitzt in einflussreichen Kommissionen.
Eine Wahl der 55-jährigen Gysi zur Nachfolgerin des 50-jährigen Levrats wäre jedoch kein Signal für einen Generationenwechsel. Hinzu kommt, dass sie zwei wichtige Ausmarchungen verloren hat: 2015 unterlag sie bei der Wahl ums Fraktionspräsidium gegen Roger Nordmann, 2018 bei der Wahl des Präsidiums des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes gegen Pierre-Yves Maillard.
Mit 31 Jahren ist die Winterthurerin die jüngste der möglichen Kandidatinnen. Nach vier Jahren im Zürcher Kantonsrat schaffte Meyer 2015 die Wahl in den Nationalrat. Dort hat sie sich bereits in ihrer ersten Legislatur Anerkennung als fleissige und dossierfeste Politikerin erarbeitet.
Die ehemalige Juso-Vizepräsidentin politisiert am linken Flügel der Partei. So gehörte sie etwa zur Minderheit, welche im Frühjahr die STAF-Vorlage ablehnte. Der Kompromiss zwischen SP und bürgerlicher Mitte bei den Unternehmenssteuern und der Altersvorsorge fiel in Meyers Augen zu vorteilhaft für die von ihr angeprangerten internationalen Grosskonzerne aus.
Eine Wahl Meyers würde für eine Stärkung des Bewegungscharakters der Partei stehen und ein Stück weit für eine Abwendung vom institutionellen, mit Kompromissen verbundenen Politisieren unter der Bundeshauskuppel.
Die 45-jährige Zürcherin sitzt ebenfalls seit 2015 im Nationalrat. Davor prägte sie als Fraktionschefin im Gemeinderat während Jahren die Stadtzürcher SP. Marti steht damit für die urbane Wählerbasis der SP. Die Verlegerin und Chefredaktorin der linken Wochenzeitung «P.S.» und ehemalige «20 Minuten»-Kolumnistin bringt viel Erfahrung im Kampagnenbereich mit und gilt als gewiefte Kommunikatorin ohne Berührungsängste.
Ob Marti am Ende wirklich kandidiert, ist offen. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte sie, sie könne sich eine Kandidatur grundsätzlich vorstellen. Allerdings gebe es «einige ungünstige Faktoren». Nebst Beruf und kleiner Tochter kommt bei Marti noch eine spezielle Konstellation dazu: Ihr Mann, Nationalrat Balthasar Glättli, ist als neuer Parteichef der Grünen im Gespräch.
Der ehemalige Juso-Chef sitzt seit 2011 im Nationalrat und ist eines der national bekanntesten Gesichter der SP. Ähnlich wie Mattea Meyer politisiert der 33-Jährige auf dem linken Flügel seiner Partei und lehnte die STAF ebenfalls ab. Wermuth gilt als beschlagener Rhetoriker und bringt viel «Arena»-Erfahrung mit.
Seine eigenen Ständeratsambitionen musste der Aargauer trotz eines ambitionierten Wahlkampf bereits nach dem ersten Wahlgang beerdigen. Trotzdem kann sich Wermuth damit schmücken, dass er weiss, wie man Wahlen gewinnt. Unter seiner Führung legte die Aargauer SP zwischen 2014 und 2018 bei kommunalen und kantonalen Wahlen deutlich hinzu. Und im Oktober gelang es – wohl auch dank Wermuths Mobilisierungsbemühungen – einen dritten Nationalratssitz zu gewinnen.
Am Tag von Levrats Rücktritt erklärten mehrere zuvor als an einer Kandidatur interessiert geltende SP-Exponenten ihr Desinteresse. Die Berner Nationalrätin und Wahlkampfleiterin Nadine Masshardt nahm sich aus dem Rennen, ebenso wie der Basler Nationalrat und bisherige Vizepräsident Beat Jans. Auch der neu in den Nationalrat gewählte Jon Pult, dessen Name in den Medien ebenfalls herumgereicht worden war, gab bekannt, nicht für das Amt zur Verfügung zu stehen.
Möchte das auch gar nicht bewerten. Aber es ist sonnenklar, dass die SP bei der momentanen politischen Grosswetterlage eine Frau zur Präsidentin machen wird.
Welchen Einfluss dieser Fokus auf den Punkt "glaubwürdiger Neustart" hat, das lassen wir mal offen...
Ich will eine glaubwürdige und kompetente Person mit Elan, Mut und Ideen.
Von daher kommt für mich von den Vorgeschlagenen nur Wermuth in Frage- selbst wenn er nicht von meinem Flügel kommt.
Wasserfallen gefällt mir auch- aber sie ist, zumindest für mich, eher Typ Fraktionspräsidentin und nicht die für jede Hundsverlochete.