Die SP hat ihre sieben Sitze im Stöckli bereits verteidigt. Es könnte sogar noch besser kommen für die Sozialdemokraten. In Solothurn und Schaffhausen haben sie mit Franziska Roth und Simon Stocker die Chance, zwei zusätzliche Sitze zu gewinnen.
Die SP könnte am Sonntag also bei neun Sitzen landen. Damit wäre sie wieder auf dem Niveau von 2019. Der Verlust, der aus den Rücktritten von Christian Levrat und Paul Rechsteiner resultierte, wäre wettgemacht.
Dies mag überraschen, denn der SP wurde von verschiedenen Seiten ein schlechtes Ergebnis im Ständerat vorausgesagt. So schrieb etwa die NZZ vor einem Jahr:
«Wahrscheinlicher ist, dass sie 2023 so tief fällt wie seit den 1990er-Jahren nicht mehr, als die Genossen im Ständerat nie mehr als sechs Sitze erobern konnten.» Auch der Tages-Anzeiger und die watson-Wahlbörse prognostizierten lediglich sechs SP-Ständeratssitze.
SP-Co-Präsident Cédric Wermuth freute sich vergangenen Sonntag auf X: «Vor den Wahlen wurde uns der Untergang im Ständerat vorausgesagt. Heute haben wir als erste Partei die Fraktionsgrösse von Ende letzter Legislatur erfolgreich verteidigt.»
Woran liegt der überraschende Erfolg der SP? «Es liegt teilweise an der Schwäche der Grünen, insbesondere in der Westschweiz», sagt Politologe Oliver Strijbis, der an der Franklin University in Lugano lehrt. «Aber es gibt auch Gründe, die sehr spezifisch für einzelne Kantone sind. Wie zum Beispiel der Umstand, dass Thomas Minder in Schaffhausen ganz offensichtlich seine von der Abzocker-Initiative stammende Popularität eingebüsst hat.» Der parteilose Minder tritt am Sonntag im zweiten Wahlgang gegen den eingangs erwähnten Stocker an.
Trotz des Erfolgs der SP wird das linke Lager in der neuen Legislatur kleiner sein. Das liegt am schwachen Abschneiden der Grünen. Besonders schmerzhaft für die Partei war das Scheitern von Lisa Mazzone am vergangenen Sonntag in Genf. Sie galt als Aushängeschild der Grünen und hätte 2025 das prestigeträchtige Amt der Ständeratspräsidentin übernehmen können. Als erste Grüne überhaupt.
Aktuell kommen die Grünen im Stöckli auf lediglich drei Sitze, 2019 waren es noch fünf. Im Rennen für die Partei ist nur noch Greta Gysin im Tessin. Ihre Wahlchancen sind jedoch gering. Damit droht den Grünen der Verlust der Gruppenstärke von fünf Sitzen.
Grüne-Ständerätin Maya Graf will jedoch noch nicht aufgeben. «Ich hoffe, dass wir noch fünf Sitze erreichen», sagt sie gegenüber watson. Die Baselbieterin setzt neben Greta Gysin auf Tiana Moser. Die Zürcherin kandidiert zwar für die GLP, könnte sich aber der Grünen-Fraktion anschliessen.
So oder so: Realistische Chancen auf eine Vertretung im Bundesrat dürften die Grünen nach diesen Wahlen nicht haben. «Ihre Bundesratskandidatur verkommt zu reiner Symbolik», sagt Strijbis.
Bei den Nationalratswahlen lief es bei der SVP ausgezeichnet. Sie legte um neun Sitze zu und bleibt mit Abstand die grösste Partei der Schweiz. Durchzogener ist die SVP-Bilanz im Stöckli, dort konnte sie bisher fünf ihrer sieben Sitze verteidigen.
Für die Volkspartei verspricht der Sonntag Hochspannung. In vier von fünf Kantonen hat sie einen Kandidaten im Rennen und in Schaffhausen wird sie auf Thomas Minder hoffen. Denn Minder ist in der SVP-Fraktion.
Mindestens einen weiteren Sitz dürfte die SVP im Kanton Tessin hinzugewinnen. Dort hat Parteipräsident Marco Chiesa beste Aussichten, wiedergewählt zu werden.
Bei Gregor Rutz in Zürich, Benjamin Giezendanner im Aargau und Christian Imark dürfte es hingegen eng werden. Verpassen sie die Wahl, wird die SVP im Ständerat schwächer vertreten sein als noch in der letzten Legislatur.
Strijbis glaubt nicht an einen Sitzverlust der SVP. «Es ist recht wahrscheinlich, dass Mauro Chiesa und zumindest einer der drei anderen Kandidaten einen Sitz gewinnt und die SVP damit bei mindestens 7 Sitzen bleibt.»
Wie erklärt sich das unterschiedliche Abschneiden in National- und Ständerat? Im Ständerat gilt in den meisten Kantonen das Mehrheitswahlrecht, weshalb die Kandidierenden über die eigenen Parteigrenzen Stimmen gewinnen müssen. Strijbis: «Und weil sich die SVP weit rechts positioniert und Kandidierende von anderen Parteien regelmässig beleidigt, fehlt es ihnen oft an Sympathisantinnen und Sympathisanten über die eigene Stammwählerschaft hinaus.»
Stärkste Partei im Ständerat wird die Mitte bleiben. Das steht bereits fest. Sie hat zwei Sitze Vorsprung auf die FDP, welche nur noch im Tessin einen Kandidaten im Rennen hat.
Für die Mitte liegt am Sonntag gar der ganz grosse Coup drin. Wenn im Aargau Marianne Binder-Keller und im Tessin Fabio Regazzi gewählt werden, käme die Partei auf 15 Sitze und hätte voraussichtlich vier Sitze Vorsprung auf die FDP. Dieses Szenario ist durchaus realistisch.
Welche Auswirkungen wird das auf die Bundesratswahlen haben? «Nicht viel, denn es ist bereits ausgemacht, dass sich an der Zauberformel nichts ändern wird», sagt Strijbis. «Aber es stärkt die Mitte in Bezug auf eine eigene Kandidatur, wenn ein FDP-Bundesrat, also Karin Keller-Sutter oder Ignazio Cassis, zurücktreten wird.»
2019 wurden 13 Frauen in den Ständerat gewählt. Das war ein Rekord. Die Chancen sind intakt, dass dieses Resultat gehalten oder sogar getoppt werden kann. Aktuell haben bereits 12 Frauen ihren Ständeratssitz auf sicher.
Mit Tiana Angelina Moser, Marianne Binder und Franziska Roth haben drei weitere Frauen realistische Wahlchancen. Greta Gysin im Tessin muss auf ein politisches Wunder hoffen.
Es ist also möglich, dass in der kommenden Legislatur so viele Frauen im Stöckli politisieren werden wie noch nie. Allerdings könnten auch alle drei Kandidatinnen ihr Rennen verlieren.
«In beiden Schweizer Parlamentskammern sind die Frauen nach wie vor untervertreten», sagt Flavia Kleiner von Alliance F, dem Bund Schweizerischer Frauenorganisationen, gegenüber watson. «Im Ständerat betrug der Frauenanteil vor den Wahlen erst 28 Prozent. Wenn am kommenden Sonntag die drei Favoritinnen gemäss Prognose gewählt werden, dann läge er neu bei 35 Prozent, was ein historischer Rekord wäre.»
Der Ausgang ist offen, der Sonntag verspricht auch in dieser Hinsicht viel Spannung.