Nirgends verbringen Autofahrer so viel Zeit wie in der Zürcher Gemeinde Weiningen. Freiwillig tun sie das nicht. Aus dem Limmattal kommend quält sich die Blechschlange dort auf der A1 in Fahrtrichtung St. Gallen über das Limmattaler Kreuz, bevor sie im Gubristtunnel verschwindet. Der Autobahn-Abschnitt hält einen Rekord: Während über 1600 Stunden staute der Verkehr dort letztes Jahr – durchschnittlich viereinhalb Stunden täglich.
Ähnlich lang standen die Autofahrer auch auf der A3 vor dem Limmattaler Kreuz. Durchschnittlich über drei Stunden täglich staute sich der Verkehr 2019 zudem auf diversen weiteren Abschnitten der Nordumfahrung Zürich, auf der A2 vor dem Schweizerhalle-Tunnel in Basel oder auf der A1 zwischen Oensingen und Härkingen. Das zeigen Daten, die von diesem Portal ausgewertet wurden.
Die Zahlen sind alarmierend, denn sie steigen schnell an. Die Staustunden auf Autobahnen nahmen im letzten Jahr um über 10 Prozent zu. Das Astra warnt vor dem Kollaps. «Das Nationalstrassennetz stösst zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen», heisst es im neuesten Bericht zum Verkehrsfluss.
Die These werde dadurch gestützt, dass sich die Staustunden seit 2010 fast verdoppelt hätten. Die Fahrleistung sei aber nur um 17 Prozent gestiegen. Darunter wird die Zahl aller Kilometer verstanden, die Fahrzeuge auf Nationalstrassen zurücklegen. «Das Netz ist vielerorts derart stark belastet, dass bereits kleine Störungen zu länger anhaltenden Staus führen können», heisst es im Bericht.
Mittlerweile sind die Nationalstrassen so überlastet, dass sie von Autofahrern gemieden werden. Dabei hatten die Experten des Bundes in den vergangenen Jahren immer wieder betont, man solle bei Stau nicht von der Autobahn herunterfahren, weil nur diese die nötige Kapazität hätten.
Genau diese Entwicklung ist aber in den letzten Jahren eingetreten. Bereits seit etwa 2010 seien die Autobahnen nicht mehr flächig in der Lage, das Verkehrswachstum in gewohntem Umfang aufzunehmen, schreiben die Astra-Experten. Es sei zu vermuten, dass «die zunehmenden Engpässe punktuell sogar zu Verdrängungseffekten auf das nachgelagerte Strassennetz geführt haben». Das heisst: Frustrierte Autofahrer verlassen die Autobahn und fahren lieber auf Haupt- und Nebenstrassen weiter.
Ein Beispiel dafür gibt das Astra selbst: Auf der Autobahn der Basler Osttangente Richtung Norden ging das Stauaufkommen letztes Jahr zurück. Das liege am Ausweichverkehr, der andere Strassen genutzt habe, so das Astra. Nur: Wenn das zu viele tun, staut es in den Städten und Gemeinden häufiger.
Indizien dafür gibt es. Das zeigen etwa Auswertungen des Verkehrsdaten-Anbieters TomTom. In Genf mussten Autofahrer letztes Jahr in den abendlichen Stosszeiten durchschnittlich 50 Minuten für eine Fahrt einplanen, die unter normalen Bedingungen 30 Minuten dauern würde. Regelmässige Autopendler nach Genf verloren durch den Stau in den Stosszeiten 140 Stunden im Jahr. Genf gehört unter den untersuchten Städten zu den 100 mit der schlimmsten Stausituation - weltweit.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Stadt Zürich. Auch dort verschlimmerte sich die Stausituation 2019 laut TomTom. Übers ganze Jahr hinweg stand ein Autofahrer in den Stosszeiten während 138 Stunden im Stau – drei Stunden mehr als noch zwei Jahre zuvor.
Zwar ist nur ein Teil der Staus in den Städten und Gemeinden auf Ausweichverkehr von den Autobahnen zurückzuführen. Doch geht die Entwicklung so weiter wie befürchtet, dürfte dieser Teil grösser werden. Das Astra will mit verschiedenen Massnahmen nun dafür sorgen, dass der Verkehr auf den Autobahnen wieder flüssiger läuft.
Neben Ausbauten auf sechs Spuren, wie sie beispielsweise erst kürzlich für den Abschnitt zwischen Schönbühl und Kirchberg im Kanton Bern beschlossen wurden, sollen in den Stosszeiten Pannenstreifen vermehrt als weitere Spur genutzt werden. Mit einer solchen Umnutzung auf der A1 zwischen Morges und Ecublens hat das Astra bereits «durchwegs positive Erfahrungen» gemacht. Insgesamt stehen Pannenstreifen mit einer Länge von 250 Kilometern für solche Projekte zur Diskussion.
Angesichts des drohenden Verkehrskollapses will das Astra aber auch sogenannte Carpool-Lanes testen. Darunter werden Spuren verstanden, auf denen nur Autos mit einer bestimmten Anzahl Insassen fahren dürfen – in der Regel mindestens zwei. Das Astra prüft solche aus den USA bekannten Extra-Spuren für Einfahrtrampen und auf dreispurigen Autobahnabschnitten.
Das Astra wolle die Idee im Zusammenhang mit der Reduktion von Staustunden in den nächsten Jahren mit Pilotprojekten prüfen, sagt ein Sprecher. «Gestützt auf diese Erkenntnisse soll ein Konzept für Carpool-Lanes erarbeitet werden.» Zudem prüft die Behörde, ob auch anderweitig Fahrgemeinschaften gefördert werden können – etwa mit speziellen Parkplätzen an Anschlüssen.
Vorbild sei Frankreich, wo eine ähnliche Idee mit der «Covoiturage» schon praktiziert werde. Ein Testprojekt läuft auch in Genf. Dort gibt es auf der Kantonsstrasse beim Grenzübergang Thônex-Vallard seit 2018 solche Extraspuren. Kurz vor der Coronakrise wurde der Test verlängert. «Die Extraspur funktioniert gut», sagt ein Sprecher des Kantons. In Zahlen scheint der Effekt allerdings gering: Die Zahl der Fahrzeuge mit mindestens zwei Insassen ist seit Testbeginn um 2.1 Prozent gestiegen.
Bis Carpool-Lanes auf Autobahnen Realität werden, könnten noch Jahre vergehen. Bis dann müssen sich Autofahrer vermehrt auf Tempo 80 einstellen. Bei dieser Geschwindigkeit ist die Kapazität der Autobahnen in der Regel am höchsten. Nicht überall kann das Tempolimit aber flexibel signalisiert werden.
Darum baut das Astra derzeit auf knapp 430 Kilometern Autobahn elektronische Verkehrsmanagement-Systeme auf. Diese können neben der Warnung vor Gefahren dazu genutzt werden, je nach Verkehrsaufkommen andere Tempolimits zu signalisieren. Eine Patentlösung gegen Stau ist das aber auch nicht. Es gehe darum, so das Astra, «den Verkehrszusammenbruch möglichst lange hinauszuzögern». (bzbasel.ch)