Rentenalter 67? Eher nein. Mehr Staatsgeld für Weiterbildung? Ja! Keine fossilen Energieträger ab 2050? Eher ja. Der Bund fördert erneuerbare Energien stärker? Eher ja. Vermögende beteiligen sich stärker an der Finanzierung des Staates? Ja. Der Staat unterstützt Kinderkrippen stärker? Eher ja.
Für einen SVP-Politiker hält Marco Chiesa, der wohl künftige Präsident der grössten Partei, einige Überraschungen bereit. Den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub nicht mitgerechnet. In der Schlussabstimmung sagte er Ja, doch inzwischen hat er seine Meinung geändert: Es sei aufgrund der Coronakrise nicht der richtige Moment, ein neues Sozialwerk einzuführen.
Marco Chiesa war nicht nur Leiter eines Altersheims. Mit vier Mitstreitern hat er auch drei Kinderkrippen gegründet und sie mitfinanziert. Zudem ist er Präsident der Winterhilfe Tessin. Trotzdem fühle er sich wohl in der SVP, betont er. Und fügt, fast entschuldigend, hinzu: «Das ist kein Widerspruch.»
Wird Chiesa die SVP sozial-konservativ aufstellen nach dem Vorbild der Tessiner Lega?
Der Tessiner politisiert am linken Rand der SVP-Nationalräte. Das zeigt das Links-rechts-Rating des Nationalrats von 2019, das Politgeograf Michael Hermann für die NZZ erstellt hat. Nur fünf Vertreter der grossen Kammer sind noch linker als Chiesa, darunter die Lega-Vertreter. Chiesa ist aber rechter als fünf der sechs SVP-Ständeräte.
Auch ein Vergleich seines Smartspiders – acht thematische Ratings – mit dem Spider der Fraktion offenbart: Chiesa will einen stärker ausgebauten Sozialstaat und mehr Umweltschutz, aber eine weniger liberale Wirtschaftspolitik und weniger restriktive Finanzpolitik. Auf Kurs ist er in den SVP-Kernthemen Migrationspolitik und Law and Order. Gar eine härtere Linie fährt er in der Aussen- und Gesellschaftspolitik.
Chiesa lacht, als er von den Ratings hört. «Eigenverantwortung hat erste Priorität», betont er. Diese SVP-Haltung teile er. Als Lateiner gebe er dem Staat aber eine wichtigere Rolle als Deutschschweizer.
Dass er die Lega imitieren will, verneint er. «Ich habe zwar viele Sympathien für die Lega und wir arbeiten in vielen Themen sehr gut zusammen», sagt er. «Aber die SVP ist die SVP und nicht die Lega. Wir sind eine Partei und keine Bewegung.» Anders als die Lega will Chiesa keine 13. AHV-Rente.
Er will die AHV retten, weil er dort Probleme sieht. «Wir müssen eine Lösung finden für die AHV», sagt er. «Das ist heute sehr entscheidend. Mehrere hunderttausend Schweizerinnen und Schweizer sind in Kurzarbeit, Zehntausende haben ihre Arbeit bereits verloren und wir wissen nicht, wie viele noch arbeitslos werden.»
Sozial- und Gesundheitsthemen werden sehr wichtig – auch für die SVP. «Die Sozialwerke und die Gesundheitskosten sind ein Problem für die Bevölkerung», sagt er. Die Gesundheitskosten seien von 52 Milliarden (2006) auf 82 Milliarden (2018) gestiegen. «Deshalb muss sich die SVP darum kümmern.»
Mit diesen Aussagen trifft er eine neue Grundstimmung in der Partei. Das zeigt nur schon die hochkarätige SVP-Delegation in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK). Mit Präsident Albert Rösti, Fraktionschef Thomas Aeschi und Vizepräsidentin Céline Amaudruz ist sie so prominent besetzt wie nur noch die Wirtschaftskommission.
In der SGK sitzt auch Alex Kuprecht, ein Routinier, seit 2003 im Ständerat, 44 Jahre lang in einer Führungsfunktion für die Bâloise Versicherungen. Er hat hinter den Kulissen einen Coup gelandet. Unter seiner Führung haben SVP, FDP, CVP und GLP einen bürgerlichen Plan für eine kleine AHV-Reform entwickelt, den die NZZ publik machte: Rentenalter 65 für Frauen; Rückvergütungen für Frauen von 400 bis 550 Millionen; Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,3 Prozentpunkte. In der Endphase der Gespräche waren auch Präsident Rösti und Fraktionschef Aeschi involviert.
Kuprecht spricht von einem «Paradigmenwechsel». 2010 habe die SVP mit der SP ein AHV-Paket abgelehnt mit der Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre. «Dass man dies aus sturen und ideologischen Grundsatzüberlegungen tat, habe ich nie verstanden.» Damit seien in den letzten zehn Jahren vier Milliarden für die AHV verloren gegangen – und das Rentenalter der Frauen sei noch immer nicht angepasst.
Das soll sich ändern. Kuprecht: «Die SVP will künftig in der Frage der Sozialwerke – AHV und BVG – eine tragende Rolle spielen». Dafür haben die Kommissionsmitglieder Vorarbeiten geleistet. Im Januar trafen sie sich zur Klausur zur AHV 21 und formulierte Eckwerte. Im Sommer besuchte sie Michèle Blöchlinger (Nidwalden), Natalie Rickli (Zürich) und Pierre Alain Schnegg (Bern), drei von sieben SVP-Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren. Das Generalsekretariat soll nun Grundsatzpapiere schreiben zur Sozial- und Gesundheitspolitik.
Marco Chiesa sitzt nicht in der Sozialkommission. Für ihn spielt «Prima i nostri» (die unsrigen zuerst) eine wichtige Rolle. So heisst die Initiative mit dem Inländervorrang, dem das Tessin zustimmte. Die Deutschschweiz werde bald vor ähnlichen Problemen stehen, befürchtet Chiesa. «Der Druck auf den Schweizer Arbeitsmarkt wird zunehmen wegen der Coronakrise.» Für ihn sei das ganz klar Thema Nummer eins.
Der Mann sollte arbeiten und die Frau zuhause bleiben.
Und dass sie sich so auf die AHV versteifen ist wohl auch kein Zufall, denn immerhin besteht das konservative Milieu zu einem grossen Teil aus Rentnern oder solchen, die es schon bald sind.