In seltenen Momenten lässt Christoph Blocher einen Einblick in sein Innenleben zu. «Ich bin tief beeindruckt darüber, dass noch so viele Leute in der Schweiz zu ihrem Land stehen», sagte er am Abend des 9. Februar 2014 auf seinem Onlinekanal Teleblocher. Da hatte das Stimmvolk gerade die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen, mit 50,3 Prozent Ja.
Für Blochers Partei war es der herausragende Erfolg in der zu Ende gehenden Legislatur. Einmal mehr hatte die SVP der «Classe Politique» einen Tritt ans Schienbein verpasst. Einmal mehr hatte sie es geschafft, einen aufgestauten Unmut im Volk, den weder Politik, Medien noch Wirtschaft wahr haben oder ernst nehmen wollten, auf ihre Mühlen zu lenken. Schon bei der Minarett- und der Ausschaffungs-Initiative hatte sie auf diese Art reüssiert.
So richtig überzeugt davon war Blocher im Vorfeld anscheinend nicht, entsprechend erleichtert zeigte er sich im Interview. Der SVP-Vordenker hat damit, ohne es vermutlich selber zu realisieren, die Zerrissenheit vieler Menschen in der heutigen Schweiz offengelegt: Den Wunsch nach Wohlstand auf der einen und einer heilen Geranien-Welt auf der anderen Seite. Eine widersprüchliche Befindlichkeit, die in der Politik der SVP ihren Ausdruck findet.
Die SVP betreibt eine neoliberale Wirtschaftspolitik, sie fordert einen schlanken Staat, tiefe Steuern und weniger Regulierungen. Gleichzeitig praktiziert sie mit den Kampfbegriffen Unabhängigkeit und Neutralität eine nationalkonservative Abschottungspolitik. Die Schweiz soll sich von internationalen Bündnissen fern halten, ihre Grenzen gegenüber Asylbewerbern dicht machen und die Zuwanderung einschränken.
Dieses Doppelspiel kann nicht aufgehen. Eine wohlhabende Schweiz ist attraktiv für «Wirtschaftsflüchtlinge» und angewiesen auf ausländische Fachkräfte, weil sie den Bedarf bei weitem nicht selbst decken kann. Und eine exportstarke, hoch globalisierte Schweiz kann sich den weltweiten Entwicklungen nicht entziehen und ins Schneckenhaus verkriechen. Das ruhmlose Ende des Bankgeheimnisses hat dies eindrücklich gezeigt.
Dennoch gelingt der SVP der «unmögliche» Spagat zwischen neoliberal und nationalkonservativ. Drei Gründe sind dafür verantwortlich. Zum einen profitiert sie davon, dass ihre Gegner sich zwar oft und gerne über die stilistischen Entgleisungen der Partei aufregen, es aber nicht fertig bringen, den Grundwiderspruch in ihrer Politik offenzulegen. Die Stärke der SVP basiert auch auf der Schwäche der Konkurrenz.
Ein weiterer Grund – und nicht der unwichtigste – ist Übervater Christoph Blocher. Das Charisma des Milliardärs mit dem bäuerischen Auftreten überdeckt den Widerspruch, den nicht nur die SVP, sondern auch er selbst verkörpert. Der Schriftsteller Charles Lewinsky verwendete dafür ein besonders schönes Bild, als er im watson-Interview darüber sinnierte, Blocher lasse sich «vom teuersten Massschneider schlecht sitzende Anzüge anfertigen, damit er volkstümlich aussieht».
Mit dem Unternehmer Blocher als treibender Kraft schlug die einstige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei den neoliberalen Wirtschaftskurs ein. Gleichzeitig verherrlicht Blocher die alten Eidgenossen. Er liess das Beinhaus im früheren Marignano renovieren, in dem vielleicht, vielleicht auch nicht Gefallene der Schlacht von 1515 ruhen. Geprägt wurde er durch Kirche, Armee und Bauernstand – jenen Institutionen, die in den letzten Jahrzehnten den grössten Bedeutungsverlust erlitten haben. Bei Landwirtschaft und Militär ist denn auch Schluss mit der Prinzipientreue der SVP, für sie kann der ansonsten geschmähte Staat gar nicht genug Geld ausgeben.
Der springende Punkt aber ist, dass die SVP-Wählerschaft sich einzig für den nationalkonservativen Teil (Nein zu EU und Ausländern) interessiert und den Neoliberalismus ausblendet. «Die SVP kann es sich leisten, für Steuerabbau und Budgetkürzungen und damit gegen die Interessen eines grossen Teils ihrer Wähler zu mobilisieren, weil diese sie nicht wegen ihrer Kritik an einem überbordenden Staat, sondern wegen ihrer Unterstützung der Abgrenzung nach aussen wählen», heisst es in der 2005 erschienenen Studie «Der Aufstieg der SVP».
Genau dies macht den SVP-Siegeszug so paradox. Die Partei wird zu einem beträchtlichen Teil von «kleinen» Leuten gewählt: Geringverdiener, Rentner, Sozialhilfeempfänger. Oder «Globalisierungsverlierern», wie die Studie weiter festhält. Sie machen die Ausländer zu Sündenböcken für ihre Probleme. Und geben ausgerechnet jener Partei ihre Stimme, die die Zuwanderung mit ihrer neoliberalen Politik so befeuert wie keine andere.
Man könnte es bösartig formulieren: Die SVP wird von den Verlierern ihrer eigenen Politik gewählt.
Kann dies auf Dauer gut gehen? Man hat schon oft versucht, den Niedergang der SVP herbeizuschreiben. Doch der Spagat wird immer schwieriger. Die SVP muss immer radikalere Initiativen lancieren, um ihre nationalkonservative Basis bei Laune zu halten. Die Masseneinwanderungs-Initiative etwa brachte sie erst, als die Vereinigung Ecopop bereits ihr eigenes Volksbegehren zur Begrenzung der Zuwanderung angekündigt hatte.
Die Kehrseite der Medaille: Die SVP muss befürchten, dass ihr «Zuzüger» aus der politischen Mitte wieder abhanden kommen und sich der erstarkten FDP zuwenden, die sich als «Stimme der Vernunft» im rechtsbürgerlichen Lager zu profilieren versucht. Ausserdem kommt es immer wieder zu Irritationen auf Seiten der Wirtschaft, die den SVP-Neoliberalismus ansonsten schätzt.
Gefahr droht auch, weil Christoph Blocher in der Öffentlichkeit nicht mehr so präsent ist wie in seinen besten Zeiten. Er wird im Oktober 75 Jahre alt. Adäquate Nachfolger sind nicht in Sicht. Tochter Magdalena hat weder das Charisma noch die rhetorischen Qualitäten des Seniors. «Ziehsohn» Roger Köppel ist ein feuriger Redner, doch er hat die Aura eines Intellektuellen, Blochers Volkstümlichkeit geht ihm ab. Parteichef Toni Brunner besitzt davon mehr als genug, dafür sind seine Wortmeldungen bar jeder Substanz.
Deshalb werden zunehmend Risse im waghalsigen Konstrukt SVP sichtbar. Für Aufsehen sorgte Nationalrat Alfred Heer, Präsident der Kantonalzürcher SVP, als er die «Trivialisierung» des laufenden Wahlkampfs mit Plüschhund und Willy-Song beklagte und die Konzentration auf Flüchtlinge und EU kritisierte: «Die Wähler erwarten von uns auch Antworten zu anderen Themen wie den aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, sonst unterstützen sie andere Parteien, die dort auftrumpfen», warnte Heer im Interview mit dem «SonntagsBlick».
Es ist exakt das Dilemma der Partei: Soll man um jeden Preis die rechte Flanke halten und dabei Abwanderungen in der Mitte riskieren? Oder soll man sich breiter aufstellen und «normaler» werden? Mit dem Risiko, das rechte Segment zu vergraulen, das man seit Beginn des SVP-Siegeszugs in den 1990er Jahren regelrecht aufgesaugt hat?
Einen Absturz muss die SVP in naher Zukunft nicht befürchten, dafür sorgen die ungelöste Flüchtlingsproblematik und der absehbare Showdown mit der EU um die Zukunft des Bilateralismus. Aber ihre Bäume wachsen nicht mehr in den Himmel. Schon die Studie von 2005 hat es prophezeiht: Bei 30 Prozent Wähleranteil ist Ende der Fahnenstange.
Die Super-Schweizer
dracului
reputationsprofi
Das ist mal eine zwar kritische, aber eher ausgewogene Beurteilung der Lage. Ich sehe das in manchen Punkten ziemlich ähnlich.