Man kann vom Islamischen Zentralrat
der Schweiz (IZRS) halten, was man
will – ein Geschick zur (medial wirksamen)
Inszenierung ihrer Anliegen kann
man ihm jedoch kaum absprechen. So
zum Beispiel am 1. Juli dieses Jahres in
Locarno: Die Konvertitin Nora Illi, beim
IZRS für Frauenangelegenheiten zuständig,
lief mit einem Niqab bekleidet
über die Piazza Grande. Von den herbeigeeilten
Polizisten liessen sich sie
und ihr Begleiter, der sie mutmasslich
angestiftet hatte, noch so gerne eine
Busse ausstellen – genau dies war die
Absicht ihres Protests. Seit jenem Tag
war im Tessin das Verbot der Vollverschleierung
in Kraft, welches das Tragen
von Ganzkörperschleiern (Burka)
oder Gesichtsschleiern (Niqab) im öffentlichen
Raum untersagt.
Ein Monat später zeigt sich nun: Es ist im Tessin bei diesem einem Strafzettel geblieben. «Mir sind keine weiteren Bussen im Zusammenhang mit dem Verhüllungsverbot bekannt», sagt Dimitri Bossalini, Präsident der Vereinigung der Tessiner Gemeindepolizeien, auf Anfrage der «Nordwestschweiz». Die Polizisten seien in den ersten Monaten nach Einführung des Gesetzes tolerant gegenüber muslimischen Frauen – es sind praktisch ausschliesslich Touristinnen –, die einen Ganzkörperschleier tragen. Bossalini spricht von einer «ausgewogenen Vorgehensweise», die in Betracht ziehe, dass das Verbot erst seit kurzem gelte und möglicherweise noch nicht allen Betroffenen bekannt sei.
Zentral ist dabei ein Flyer, den die Polizisten auf sich tragen und der auch in den Tessiner Hotels verteilt wird: Auf Arabisch und Englisch werden die «werten Gäste» auf das neue Gesetz hingewiesen, auch die drohenden Sanktionsmöglichkeiten in Form von Busse (100 bis 10'000 CHF) oder Freiheitsentzug bei Nichtbezahlen sind erwähnt. Wie viele Flyer in diesem Monat verteilt wurden, kann Bossalini nicht sagen. «Allzu viele sind es aber nicht gewesen», so der Polizisten-Präsident.
Denn die meisten Touristinnen aus dem arabischen Raum zeigen sich gar nicht erst mit verschleiertem Gesicht im öffentlichen Raum. «Unsere Gäste sind sehr gut informiert. Bereits vor ihrer Ankunft wissen sie über die neue Gesetzeslage Bescheid und kleiden sich entsprechend», sagt Lorenzo Pianezzi, Präsident von Hotellerie Suisse Ticino. Die muslimischen Frauen zeigten sich «sehr offen» und würden den Niqab – die Burka gibt es seltener – in der Öffentlichkeit so tragen, dass man das Gesicht erkennen könne. Gemäss seinen Erfahrungen fühlten sie sich deswegen «nicht in ihrer Würde verletzt», so Pianezzi.
Gross war die Befürchtung aufseiten
des Tessiner Tourismus-Sektors vor
Einführung des Verhüllungsverbots,
dass die zahlungskräftigen Gäste aus
muslimischen Ländern nicht nur verärgert
sein könnten, sondern gleich gänzlich
einen Bogen ums Tessin machen
würden. Soweit es sich nach einem Monat
beurteilen lässt, waren diese Ängste
unbegründet. «Wir gehen 2016 gegen-
über dem Vorjahr von rund 20 Prozent
mehr Touristen aus dem arabischen
Raum aus», sagt Pianezzi, der selber
auch ein Hotel führt. Die Zunahme reihe
sich in die Entwicklung der Vorjahre
ein, stehe also nicht im Zusammenhang
mit dem neuen Gesetz. Denn dass Musliminnen
nun erst recht ins Tessin kommen
wollen, um sich «endlich frei» fühlen
zu können, glaubt Pianezzi auch
wieder nicht.
Auch wenn sie nur mit wenigen Fällen zu tun haben: Damit die Tessiner Ordnungshüter gegenüber den muslimischen Touristen den richtigen Ton finden, wurde Mitte Juli eigens ein Seminar organisiert. Khaldoun Dia-Eddine von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erklärte in Lugano knapp hundert Polizisten die Charakteristiken der arabischen Mentalität.
Bei Familien empfehle es sich etwa, den Vater – das Familienoberhaupt – und nicht die «strafbare» Frau auf das Verbot anzusprechen, wie er in einem ZHAW-Blog zitiert wird. «Man kann direkt sein, muss das Verbot aber freundlich erklären und auf das Gesetz hinweisen.» Denn: Araber hätten in der Regel einen grossen Respekt vor Autoritäten, so Dia-Eddine.