Seit vergangenem Sommer findet Chiasso immer wieder mal den Weg in die Schlagzeilen. Die kleine Tessiner Grenzstadt sei am Limit, ächze unter den hohen Flüchtlingszahlen, die Bevölkerung sei verunsichert, titelten die Medien. Heute aber hiess es in einem Beitrag vom SRF: «Chiasso: von Asylchaos keine Spur».
Woher kommen diese unterschiedlichen Wahrnehmungen?
Bereits im Sommer wurde heiss über Chiasso debattiert. SVP-Präsident Marco Chiesa erzählte im Juli im Gespräch mit watson, dass Restaurantbesitzer in Chiasso wegen gewalttätigen Asyl-Migranten mehrmals am Tag die Polizei rufen müssten. Sogar er selbst sei Opfer eines Diebstahls geworden:
Nun ist die Tessiner Grenzstadt im Nachgang der Parlamentswahlen erneut zum Thema geworden. Diese Woche titelte «Blick» etwa «So leidet das ‹Lampedusa der Schweiz›» und «SVP-Chiesa zur Migrationssituation im Tessin: ‹Niemand von euch würde heute in Chiasso leben und wohnen›».
In einem der «Blick»-Beiträge klagt Beizerin Maria José Soler über die zumeist negativen Erfahrungen mit den Migranten:
Elena, die anonym bleiben möchte, erklärte gegenüber «Blick», dass die Leute Angst hätten. Kinder würden nicht mehr auf Spielplätze gebracht, viele Migranten seien bereits am Morgen betrunken.
Am Freitag nun berichtete auch SRF über die Situation in der Tessiner Stadt – allerdings in ganz anderen Tönen. «Chiasso: von Asylchaos keine Spur» titelte das Schweizer Radio und Fernsehen seinen Beitrag.
Darin wird zunächst über ein kürzlich eingeweihtes Sozialisierungszentrum am Stadtrand berichtet, wo Migrantenfamilien Italienisch lernen können. Es werde für ein friedliches Zusammenleben gearbeitet, erklärt die ehemalige Stadtpräsidentin Chiassos Roberta Pantani gegenüber SRF.
Auch Bruno Arrigoni, FDP-Gemeindepräsident von Chiasso, distanziert sich von den negativen Schlagzeilen. Er betont gegenüber SRF:
Er räumt aber ein, dass Probleme wie Streitereien und Diebstähle mit der steigenden Zahl an Asylsuchenden zunehme. Aus diesem Grund wünscht er sich eine bessere Verteilung von Asylsuchenden. Der Beitrag von SRF endet schlussendlich in optimistischem Ton:
Im Juli aber klang es beim SRF noch anders. Denn da unterhielten sich SRF-Journalisten mit derselben Beizerin, wie der «Blick» diesen Monat. Bereits da erzählte sie von ihren täglichen Problemen mit Migranten:
Die Polizei bestätigte im selben Beitrag, dass die Lage angespannt sei. Bruno Arrigone versuchte derweil auch im Juli den Ball flach zuhalten: Von einer angespannten Lage zu sprechen sei übertrieben. Dennoch: Es gebe viele kleine Zwischenfälle wie Ladendiebstähle, Betrunkene und Streitigkeiten zwischen Asylsuchenden, welche «die Lebensqualität der hiesigen Bevölkerung einschränken.»
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider äusserte sich vor rund einem Monat ebenfalls zur Lage. Anlass war die personelle Aufstockung des Tessiner Grenzschutzes. Dabei handle es sich bloss um einige zusätzliche Personen, um die Mitarbeitenden im Tessin zu entlasten, so die Bundesrätin zur Zeitung La Liberté. Von einer «katastrophalen Situation» sei man «weit entfernt».
Dennoch ist es eine Tatsache, dass die Zahlen der illegalen Aufenthalte aktuell wieder stark zunehmen. Griffen die Behörden im Juli 2023 noch 3721 Personen auf, waren es im August 5763 und im September 7120. Die irregulären Grenzübertritte erfolgten laut einer Medienmitteilung des Bundes vor allem an der Südgrenze im Tessin. 4098 von 7120 rechtswidrigen Grenzübertritten erfolgten dort. Grund für den verstärkten Migrationsdruck auf die Südgrenze im Tessin ist gemäss dem Staatssekretariat für Migration (SEM) hauptsächlich eine Verschiebung der Migrationsroute innerhalb des Balkans.
Baume-Schneider versteht, dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner von Chiasso Sorgen machen. Doch nur drei Prozent der Migrantinnen und Migranten, die an der Südgrenze identifiziert würden, stellten einen Asylantrag in der Schweiz, wie sie im Interview mit La Liberté weiter sagte. Die meisten wollen «nur das Land durchqueren», so die SP-Bundesrätin.
Das Asylsystem im Schengen-Raum brauche dennoch eine Reform, um auf Krisen reagieren zu können. Die Situation auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zeige die Grenzen des Dublin-Systems auf.
Mit dem neuen europäischen Migrationsabkommen, an dem die Schweiz beteiligt ist, verspricht sich die Justizministerin eine gerechtere Verteilung der Migrationslast. Durch einen Solidaritätsmechanismus «nimmt man entweder Asylsuchende auf, oder man leistet einen finanziellen oder personellen Beitrag».
Wie Staatspräsident Bruno Arrigone selbst sagt: Mit mehr Immigranten steigen auch die kleinen Zwischenfälle. Auch die Zahlen des Bundes und die Verlegung von Zollbeamten aus der Deutschschweiz und die Südgrenze verdeutlichen den steigenden Druck auf das Asylwesen.
Wie die Lage vor Ort wahrgenommen wird, scheint letztendlich aber eine Frage der Perspektive zu sein. Während die Bewohnerinnen und Bewohner – wie Beizerin Maria José Soler – die Herausforderungen der steigenden Asylzahlen unmittelbar zu spüren bekommen, werden diese von Politikerinnen und Politiker mehr als temporäre Schwierigkeit betrachtet. Die ehemalige Stadtpräsidentin Roberta Pantani verfolgt daher einen pragmatischen Ansatz. Gegenüber SRF sagt sie:
(saw, mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa)
Gemeindepräsi: Seit Anfang Jahr 500 Polizeieinsätze (kleine Delikte) wegen Asylanten.
Wirtin: Sie pöbeln die Gäste draussen an, nur schlechte Erfahrungen gemacht.
SRF wurde hier beschrieben.
Ich weiss nicht, ob beide Seiten von den gleichen Asylanten ausgehen.
Die Wahrheit wird wie so oft dazwischen liegen und es wird Menschen in Chiasso geben, die von so etwas betroffen sind und solche, die davon nichts mitkriegen.
Hinschauen und falls nötig Handeln, muss man auf alle Fälle.