Dichtestress auf der Skipiste: Warum jetzt über Zutrittsbeschränkungen gestritten wird
Es ist eine Premiere in Europa: Zum ersten Mal führt ein Skigebiet eine Obergrenze für Gäste ein. Im italienischen Madonna di Campiglio, wo an manchen Tagen bis zu 23'000 Menschen Schneesport betreiben, hat man genug von den Massen. Das Skigebiet hat beschlossen, ab der Wintersaison die Zahl der Tageskarten zu begrenzen. Zunächst sollen testweise in den Weihnachts- und Februarferien maximal 14’000 Skipässe pro Tag verkauft werden. Von der neuen Regelung betroffen sind nur Tagesgäste.
Der Verband der Schweizer Seilbahnbranche verfolgt die Diskussion «mit Interesse», wie Direktor Berno Stoffel sagt. Insgesamt würden die allermeisten Schweizer Bergbahnen über genügend Kapazitäten verfügen, um die Gäste «mit Qualität» zu empfangen. «An Spitzentagen werden Zusatzmassnahmen bei Zubringerbahnen ergriffen, beispielsweise das Parkplatzangebot erweitert und betreut, der Fahrplan erweitert und die Fahrgeschwindigkeiten erhöht, so dass ein Besucheransturm gut bewältigt werden kann.»
Stoffel zieht daher den Schluss, dass sich die Gäste in der Schweiz grundsätzlich «gut bis sehr gut» auf den verschiedenen Pisten verteilen. «Wir stellen fest, dass in der Schweiz kein Bedürfnis zur Einführung von Kapazitätsgrenzen besteht.»
«Von Overtourismus kann keine Rede sein»
Von zwei Dutzend angefragten Schweizer Skigebieten und Bergbahnbetreibern tönt es ähnlich. Die allermeisten winken ab: «Kein Thema», heisst es von Andermatt bis Zermatt. «Die Saastal Bergbahnen verfügen über eine hohe Transportkapazität, wodurch es nur selten zu längeren Wartezeiten an den Anlagen kommt. Zudem sind den Gästen die verschiedenen Zubringeranlagen ins Skigebiet bekannt, was zu einer guten Verteilung des Gästeandrangs beiträgt», sagt zum Beispiel ein Sprecher der Saastal Tourismus AG.
«Wir sind glücklicherweise vom Massentourismus verschont und müssen uns über die Einführung von Kapazitätsgrenzen noch keine Gedanken machen», heisst es auch aus kleineren Gebieten wie Melchsee-Frutt im Kanton Obwalden. Man habe zudem aufgrund der beschränkten Parkiermöglichkeiten eine «natürliche Begrenzung». Auch die Bergbahnen Flumserberg verweisen auf «natürliche und logistische Grenzen anhand der zur Verfügung stehenden Parkplätze». Von den Bergbahnen Klewenalp-Stockhütte heisst es: «Das Interesse und damit auch die Gästezahlen steigen bei uns aus verschiedenen Gründen stetig, doch von einem Overtourismus kann keine Rede sein.»
Viele verweisen auf ideale Platzverhältnisse. In der Jungfrau-Skiregion «verteilen sich die Gäste dank moderner Bahnen, über 200 Pistenkilometern und den dazugehörenden Talabfahrten sehr gut», sagt die Sprecherin der Jungfraubahnen. Wenn es im Winter zu Wartezeiten komme, dann punktuell, wenn viele Wintersportgäste gleichzeitig an- oder abreisen.
Der Effekt der dynamischen Preise
Die Reaktionen aus der Branche überraschen Urs Wagenseil nicht. Der Tourismusdozent an der Hochschule Luzern sagt, Schweizer Bergbahnen hätten bis auf wenige Ausnahmen über das ganze Jahr hindurch zu tiefe Auslastungsquoten, vor allem im Sommer oder unter der Woche. «So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bergbahnen nicht über zu starke Frequenzen beklagen.» Die Wahrnehmung der Kundschaft sowie der Lokalbevölkerung könne aber eine andere sein. «Gerade in den Wochen, wenn es unten neblig und oben sonnig ist, gehen Scharen in die Berge.» Dann könne es punktuell lange Wartezeiten, Dichtestress auf der Piste und übervolle Parkplätze geben. «Doch gerade solche Tage sind für die Bergbahnen ökonomisch notwendig und teils überlebenswichtig.»
Kapazitätsbeschränkungen gebe es heute in der Schweiz zwar in vielen Bereichen. «Man denke an Sportveranstaltungen oder Konzerte, wo sie aus logistischen Gründen akzeptiert sind.» Bergferienorte seien aber eine ganz andere Sache. «Niemand will sich sagen lassen, man dürfe nicht mehr nach Lust und Laune in die Berge.» Was aber funktioniere, seien dynamische Preise bei den Skitageskarten. «Diese haben einen ähnlichen Effekt, nämlich eine teilweise Steuerung der Massen», so Wagenseil.
Das bestätigen auch einige angefragte Skigebiete. So berichtet der Sprecher der Titlis Bergbahnen: «Durch das dynamische Pricing bei den Skitickets erfolgt eine ausgewogene Verteilung der Gäste über die Saison hinweg, wobei die Preisentwicklung das Buchungsverhalten gezielt beeinflusst. Zusätzliche Zutrittsbeschränkungen sind daher nicht notwendig.»
Urs Wagenseil gibt ausserdem zu bedenken, dass Kapazitätsbeschränkungen bei den Bergbahnen nur teilweise den gewünschten Effekt hätten. «Selbst wenn es über begrenzte Kontingente keine Skitageskarte gäbe, kann ja kaum jemandem verboten werden, in der gleichen Region einen Spaziergang in der Sonne oder eine Winterwanderung zu machen, zum Langlaufen zu gehen oder eine Schneeschuhtour zu unternehmen.» Das Empfinden von Dichtestress und Überbelastung könne so dennoch entstehen. «Wie etwa auch bei Hochsommertagen in der Badi, oder bei Weihnachtsmärkten im Unterland oder in den Städten.»
André Lüthi ist für punktuelle Obergrenzen
Eine klare Meinung zum Thema hat André Lüthi. Der Globetrotter-Präsident sagte bereits vor zwei Jahren dem «Blick», es brauche auch in der Schweiz eine Lenkung der Massen. «An beliebten Orten wird es ohne Tages-Kontingentierung nicht mehr gehen. Die Bergbahnen könnten beispielsweise Obergrenzen festlegen», so der Reiseunternehmer damals.
Heute hat er seine Meinung nicht geändert, im Gegenteil: «Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es in naher Zukunft im Tourismus punktuell Lenkungsmassnahmen braucht – auch in der Schweiz, denn immer mehr Menschen können und wollen reisen, aber der Planet und das Angebot werden nicht grösser», sagt Lüthi auf Anfrage. Er verweist auf den Oeschinensee im Berner Oberland, der im Sommer oft überrannt wird. Seit diesem Sommer müssen Gäste im Voraus ein Onlineticket für ein bestimmtes Zeitfenster lösen, wenn sie mit der Gondelbahn von Kandersteg zum Oeschinensee hochfahren wollen.
«Solche Beschränkungen wird es künftig vermehrt geben», ist Lüthi überzeugt. Das sei letztlich im Sinne der Gäste, der Einheimischen, der Mitarbeitenden der Tourismusbetriebe und nicht zuletzt der Natur. «Ob Skifahren, Venedig oder Machu Picchu: Es hat nun mal an neuralgischen Tagen nicht für alle Platz. Da ist es das natürlichste der Welt, dass man die Massen mit Reservierungssystemen und Beschränkungen steuert – zum Wohle aller.»
Für Unternehmer, die vom Tourismus leben – wie er selbst – müsse das nicht eine schlechte Entwicklung sein. «Am Ende geht es darum, dass die Gäste eine schöne Zeit haben und es weiter erzählen. Es nützt niemandem, wenn man einander auf den Füssen herumsteht. Punktuelle Gästebeschränkungen führen zu einem qualitativ besseren Erlebnis für alle – das ist es, was zählt.»
