Ich hatte den Oeschinensee oberhalb von Kandersteg schon seit 2018 auf meiner Bucketlist – lange bevor er zum Social-Media-Hotspot wurde.
Mittlerweile verspricht der Bergsee Influencern Millionen Klicks: Der Hashtag #Oeschinensee zählt fast 20’000 Clips auf TikTok, einzelne Videos sind bereits über 70 Millionen Mal geschaut worden.
Diesen Sommer wollte auch ich den türkisblauen See sehen, der von steilen Wiesen, Gletschern und schneebedeckten Gipfeln umrahmt ist. Mit diesem Plan war ich wohl nicht allein. Der Tagesausflug zum Oeschinensee hat mir vor Augen geführt, was Massentourismus in den Bergen bedeutet.
Von Zürich fährt man mit dem Zug via Bern bis zum Bahnhof in Kandersteg. Von dort dauert es noch 15 Minuten zu Fuss oder 5 Minuten mit dem Bus zur Gondelbahn. Ich musste eine bestimmte Gondel erwischen und entschied mich deshalb für den rappelvollen Bus, mit einem Stehplatz direkt neben dem Chauffeur.
«Ist der Bus an einem Montagmorgen immer so voll?», fragte ich ihn. «Immer», meinte er. Und fügte an: «Am Wochenende ist es noch schlimmer. Oft dauert die Busfahrt länger als der Fussweg. Das Problem sind aber nicht die ÖV-Nutzer, sondern die SUVs, die unser Dorf verstopfen.»
Und tatsächlich sieht man schon weit vor der Talstation eine Autokolonne, in der jeder wartet, einen Parkplatz zugewiesen zu bekommen.
Kandersteg im Dauerstau. Ironisch, dass der oberste Verkehrsminister der Schweiz hier aufgewachsen ist: Bundesrat Albert Rösti, ein erklärter Fan des Individualverkehrs. «Er könnte hier wirklich mal was machen», sagte der Chauffeur und schmunzelte.
Dass ich eine bestimmte Gondel erwischen musste, hatte einen Grund: Ich buchte das Billett von Zürich bis zur Bergstation Oeschinen am Abend vor dem Ausflug in der SBB-App. Dort stach mir etwas ins Auge: «Reservation für Oeschinengondel dringend empfohlen.» So etwas hatte ich für eine Gondelbahn noch nie gelesen. Die Hin- und Rückfahrt mit der Gondelbahn kostete ohnehin bereits 35 Franken ohne Halbtax. Die ganze Strecke von Zürich bis zur Bergstation 195 Franken. Wollten die noch mehr Geld von mir?
Und tatsächlich zeigte ein Blick auf die Website der Bergbahn, dass es «in der Sommersaison notwendig ist, neben dem ÖV-Ticket ein Zeitfenster für die Bergfahrt zu reservieren.» Ohne Reservation könne es zu Wartezeiten kommen – und in «Ausnahmefällen ist eine Beförderung nicht (!) möglich.» Diese Regelung gilt erst seit diesem Jahr.
Obwohl mich das Easyjet-Feeling störte, dass ich alles noch dazubuchen musste, um überhaupt meine Reise starten zu können, tat ich es. Zum Glück gab es für eine Bergfahrt zwischen 10 Uhr und 12 Uhr noch 80 freie Tickets, zwischen 12 und 14 Uhr war bereits alles ausgebucht. 5 Franken kostete mich die Reservation.
Nach 10 Minuten Fahrt in der Gondel erreichte ich die Bergstation. Hier, auf 1680 Metern über Meer, hatte ich das Gefühl, ich wäre gerade im alpinen Disneyland angekommen. Es gibt Frozen Iced Coffee, eine Rodelbahn, Menschen mit Selfiesticks und sogar einen kleinen Bus und ein Elektrotaxi, welche die Touristen direkt ans Ufer des Oeschinensees fahren.
20 Minuten würde es dauern, die rund 1,6 Kilometer perfekt präparierten Kiesweg von der Bergstation bis zum Seeufer zu laufen, sagt Google Maps. Doch das Taxi-Geschäft läuft: Ich sehe viele Touristinnen und Touristen mit Kinderwagen, Flipflops oder einfach wenig Lust zum Laufen, die für 10 Franken pro Fahrt in die zwei Shuttlebusse einsteigen.
Den Shuttlebussen muss man dann als Wanderer immer ausweichen, weil sie alle paar Minuten an einem vorbeifahren.
Mein Ziel war der Rundweg Heuberg, weil man von dort aus die beste Aussicht auf den Oeschinensee haben soll: acht Kilometer Strecke, 400 Höhenmeter, offiziell rund drei Stunden. Zu Beginn der Route warnen Schilder: gutes Schuhwerk, kein Kinderwagen, Steinschlaggefahr.
Der Panoramaweg ist stellenweise so schmal, dass sich zwei Personen nicht kreuzen können. Also bleibt man ab und zu an einer breiteren Stelle stehen, lässt eine Gruppe vorbeiziehen – und hört dabei fast ausschliesslich «Thank you». Kein «Danke» oder «Merci».
Wie eine Wanderung fühlte sich das nicht mehr an. Eher wie eine Warteschlange im Zickzack. So gross war die Masse an Touristen, die mir entgegenkam. Und als sich dann noch ein Mountainbiker durchzwängte – obwohl Radfahren im Oeschinenseegebiet ausdrücklich verboten ist –, war das Chaos perfekt.
Entlang des Panoramawegs gibt es immer wieder Bänke, die zum Verweilen einladen würden. Wäre da nicht das Dauer-Shooting.
Neben meinem Mittagsrastplatz inszenierten zwei englischsprachige Männer gerade das perfekte Erinnerungsfoto. «One more step», rief der eine mehrmals, und trieb den anderen immer näher an den Abgrund. Mit diesem Treiben waren die beiden nicht die Einzigen. Auf dem ganzen Wanderweg beobachtete ich ständig, wie Touristen möglichst auf dem letzten Absatz vor dem Abgrund posierten. Es wirkte wie eine Mutprobe: Wer wagt sich am weitesten vor für das perfekte Selfie?
Selbst wer keine Pausen auf den Bänken einlegt, kann sich dem Fotoshooting-Zwang nicht entziehen. Ich behaupte: Jede und jeder, der oder die den Rundweg macht, wird mindestens einmal gebeten, ein Foto für jemanden zu schiessen.
Viele Menschen verwechseln die Wanderung am Oeschinensee anscheinend auch mit einem Laufsteg. Der Panoramaweg wirkt teils wie eine Modenschau für alle Sorten von Schuhen, die es gibt. Von Hightech-Bergstiefeln über brandneue weisse Sneakers bis zu abgetragenen Flipflops oder Sandalen ist alles zu sehen.
Obwohl die Bergbahnen auf ihrer Website klar empfehlen, Bergschuhe für den Panoramaweg zu tragen.
Dass diese Schuh-Experimente nicht immer gut ausgehen, konnte ich am Nachmittag gleich live beobachten.
Auf dem Weg hinunter zum See machte ich beim Berghaus Unterbärgli eine Pause. Plötzlich tauchte ein Rega-Helikopter auf, schwebte über einem Felsen wenige Meter von der Hütte entfernt und setzte einen Arzt ab. Der eilte zu einer Frau, die am Boden sass. An ihren Füssen: weisse Sneakers.
Während der Heli kurz auf einer flachen Stelle weiter unten landete, untersuchte der Arzt die Frau, die sich anscheinend am Fuss verletzt hatte. Es ging ihr zum Glück gut genug, sodass sie mit ihm ein paar Meter den Hang hochhumpeln konnte. Dort wurden beide wieder in den Helikopter eingeladen und flogen davon.
Ich fragte die Wirtin, ob solche Rega-Einsätze Alltag seien am Oeschinensee. Sie zuckte nur mit den Schultern. Dann sagte sie: «Wenn man bedenkt, mit was für Schuhen die Leute hier hochlaufen, dann sind es weniger Rega-Einsätze, als man erwarten würde.»
195 Stutz…
4 Personen wollen von Zürich an die Bergstation.
Warum die wohl nicht überlegen, mit dem Zug dahin zu fahren, wenn jemand davon ein PW hat und die Prüfung dazu🤷🏼♂️
Es steht einfach in keinem Verhältnis.
Auch mit Halbtax.
An den Schuhen muss es nicht liegen, Trittsicherheit ist vor allem eine Frage der Fitness und Erfahrung. Der Heuberg ist für gewisse Leute auch mit bestem Schuhwerk zu anspruchsvoll und gefährlich . Für andere in Trail-Schuhen kein Problem…