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Russinnen in der Schweiz: Plötzlich gehören sie zum Feind

Russinnen in der Schweiz: Plötzlich gehören sie zum Feind – vier Frauen erzählen

Seit Putins Krieg begonnen hat, ist auch für Russen und Russinnen in der Schweiz nichts mehr wie zuvor. Sei es, weil sie ukrainische Freunde und Verwandte haben, sei es, weil sie Putin vertraut haben oder eine Kollektivstrafe fürchten. Vier Frauen berichten.
14.03.2022, 20:16
Annika Bangerter, Sabine Kuster, Daniel Fuchs / ch media
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Maria Thorgevsky, Künstlerin: «Es ist schwierig, Putin-Unterstützer zum Umdenken zu bewegen»

«Ich komme aus St. Petersburg, habe aber Angehörige in der Ukraine. Seit ein paar Tagen leben Verwandte aus Kiew bei mir. Sie telefonieren von morgens bis abends mit Bekannten und Freunden vor Ort. Wir sind daher überhäuft von Informationen aus erster Hand, die schwer zu ertragen sind.

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Für mich ist dieser Krieg emotional eine grosse Belastung, aber ich bin mir meiner privilegierten Situation in der Schweiz sehr bewusst. Als ich meine Verwandten an der slowakischen Grenze abgeholt habe, sah ich Mütter mit leeren Blicken. Sie hatten Kinder dabei, die sagten, sie wollten nach Hause. Das war schrecklich.

Die erste Woche nach Kriegsbeginn habe ich nur geweint. Inzwischen funktioniere ich wieder.

Was mich extrem schockiert, ist der Betrug: Dass das russische Regime behauptet, es gäbe diesen Krieg nicht. Ich weiss, dass in Russland gewisse Kreise die Invasion unterstützen. Mein dortiger Freundeskreis gehört aber nicht dazu. Sie finden den Angriff genauso schrecklich und unmöglich wie ich. Wir alle haben Verwandte und Freunde in der Ukraine. Deshalb trifft uns dieser Krieg ins Herz.

Eine Schweizerin hat mich gefragt, wie man Putin-Unterstützende zum Umdenken bewegen könnte. Das ist sehr schwierig, es bräuchte eine minimale gemeinsame Ebene. Der Beschuss der Geburtsklinik in Mariupol wäre allenfalls ein solcher Anknüpfungspunkt. Kein normaler Mensch kann so etwas gutheissen. Aber dafür muss das Gegenüber erst überzeugt sein, dass tatsächlich Krieg herrscht.

Die Medien in Russland dürfen nicht über den Krieg berichten, aber bei den liberalen drückt er dennoch durch. Statt das Wort Krieg zu verwenden, hat beispielsweise eine Zeitung «Sie wissen schon was» als Platzhalter verwendet. Um tatsächlich etwas über den Krieg zu erfahren, reichen solche Hinweise natürlich nicht.

Was mich sehr beschäftigt: Die russische Regierung kann den Krieg nicht beenden ohne Gesichtsverlust im eigenen Land. Schliesslich hat sie die Bevölkerung jahrelang mit ihrer Propaganda bearbeitet.

Ich fürchte, dass das Putin-Regime seinen Plan deshalb mit aller Härte bis zum Ende durchziehen wird.

Mit der Kunst kann man der Ideologie etwas entgegensetzen. Ich schreibe und inszeniere deshalb weiterhin. Aber nicht über den Krieg. Dafür braucht es Distanz, sonst wäre die Kunst nur von Wut geprägt und käme wie ein Pamphlet daher. Das wäre zu einfach. Die neue Realität muss sich erst einmal setzen.»

epa09794424 Russian protesters join hands and shout slogans during a rally against entry of Russian troops into Ukraine in St. Petersburg, Russia, 01 March 2022. Russian troops entered Ukraine on 24 F ...
Menschen protestieren am 6. März im russischen St.Petersburg gegen den Krieg.Bild: keystone

Russischlehrerin in der Schweiz: «Was hat unsere Sprache mit dem Krieg zu tun?»

«Als der Krieg ausbrach, habe ich meinen Russisch-Schülerinnen und Schülern geschrieben, dass ich keine normale Stunde geben will. Wir haben uns zu einem Tee getroffen und über die Situation gesprochen. Ich denke, dass sich einige vom Kurs abmelden werden. Nach Russland reisen kann man jetzt sowieso nicht.

Ich versuche Ukrainerinnen, die ich kenne, zu helfen. Vielleicht kommt eine Familie für kurze Zeit zu uns in der Schweiz wohnen. Ich telefonierte deswegen im Zug auf dem Weg zu diesem Gespräch. Da hat mich ein Mann beschimpft, weil ich Russisch sprach. Wie soll eine Sprache direkt etwas mit dem Krieg zu tun haben? Die Leute fragen mich, ob ich weiter mit meinem Sohn Russisch sprechen werde in der Öffentlichkeit. Dabei ist für Anderssprachige das Ukrainische nicht vom Russischen zu unterscheiden.

Richtig schwierig wird das Sprechen jetzt in Russland. Eine Freundin ist nach einem kritischen Tweet verschwunden.

Und auch im Ausland ist man nicht sicher. Deshalb will ich meinen Namen nicht nennen. Ich wurde schon einmal vom russischen Sicherheitsdienst verfolgt.

Die Leute in Russland überlegen sich, welche Dokumente sie auf sich tragen sollten, falls sie verhaftet werden. Das ist Terror wie zu sowjetischen Zeiten. Also versuchen wir unsere Kritik mit russischen Gedichten oder Anekdoten zwischen den Zeilen kund zu tun. Aber es wird immer schwieriger. Viele kluge Fernsehmoderatoren sind weg. Die Kritik verstummt. Ich fürchte, dass Russland bald zensiert und kontrolliert wie China.

Mein Mann, ein Schweizer, befürwortet die Sanktionen. Er glaubt, dass es die Bevölkerung gegen Putin aufbringen wird. Ich bezweifle das.

Im russischen TV heisst es nun, der Westen wolle Russland erniedrigen. Dann stellen sich die Russen eher aufs Leiden ein. Die orthodoxe russische Kirche predigt das Leiden ständig. Oligarchen treffen die Sanktionen weniger, die wissen, wie sie ihr Geld unter anderen Namen verstecken können.

Es gibt Russinnen und Russen, in Europa feststecken, weil keine Flugzeuge mehr direkt nach Russland fliegen und sie kein Geld mehr abheben können. Flugbillette via Katar, Dubai oder die Türkei sind sehr teuer. Hilfe von Europäern können sie nicht erwarten, man behandelt sie unfreundlich.

Unter meinen Bekannten gibt es keine Feindseligkeiten zwischen Ukrainern und Russen, gebildete Leute können unterscheiden zwischen Politik und Unbeteiligten. Nur eine Kollegin schrieb bei Kriegsausbruch aus Wut etwas gegen die Russen. Aber ich weiss nicht, was ich schreiben würde, wenn ich bombardiert würde.»

A. B., 37, Büromitarbeiterin in Bern: «Wenn du nicht gegen Putin bist, dann bist du für ihn»

«Jetzt fühle ich mich wieder sicherer. Doch in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch war ich wie in Panik. Sind wir in der Schweiz sicher? Ist meine Familie in Russland sicher? Ich sorgte mich, dass ich oder meine Kinder angefeindet würden, weil wir Russen sind. Dieser anfängliche Schock hat sich nun gelegt und ich habe keine persönlichen Angriffe auf mich erfahren. Den Kindern sagte ich, dass es sein könnte, dass wir ihre russischen Grosseltern nicht besuchen können.

Mein Sohn wurde in der Schule einmal darauf angesprochen, dass er Russe sei, und gefragt, auf welcher Seite er stehe. Da antwortete er, ‹ich bin Russe, natürlich bin ich für Russland›. Er ist 7 Jahre jung, wie soll er verstehen, was vor sich geht.

Die anderen Kinder sagten, ‹du musst doch für die Ukraine sein›.

Da war er total verwirrt. Seither grenzt er sich ab und antwortet, er möchte nicht darüber sprechen.

Eine Kollegin von mir, auch sie Russin, wurde von einer Schweizerin auf den Krieg angesprochen. Meine Kollegin antwortete, sie habe keine Meinung dazu, sie verstehe zu wenig davon. Die Schweizerin provozierte sie mit der Aussage: ‹Wenn du nicht gegen Putin bist, dann bist du für ihn.› Ich finde, das geht nicht.

Ich selbst habe auch nicht eine so starke Meinung und ich bin verwirrt. Auch sehr überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass es zu einem Krieg kommt. Ich anerkenne die Brutalität und dass Menschen flüchten und sterben. Ich denke auch, es ist ein Angriff Russlands auf die Ukraine. Putin allein die Schuld zu geben, ist aber zu einfach. Es braucht immer zwei, damit es so eskaliert. Hinter Putin stehen eine grosse Partei, Berater und ein grosser Teil der Bevölkerung. Das sollte man nicht vergessen.

Ich lese, Putin soll ein Wahnsinniger sein, ein Psychopath. Ich kann das nicht glauben.

Ein Teil von mir, der realistische Teil, sagt, ja, es könnte so sein. Aber innerlich denke ich, nein, das war ja noch nie so. Wir haben Putin vertraut. Er hat viel Gutes bewirkt für das Land. Ich gebe aber zu, es könnte sein, dass ich schon zu lange aus Russland weg bin. In meiner Erinnerung gibt es keine so starke Einschränkung der Meinungsfreiheit, wie das hier im Westen beschrieben wird. Dass man nun seine Meinung überhaupt nicht mehr frei äussern dürfen soll, überrascht mich.

Ich kann gut nachvollziehen, dass viele Russen nach wie vor zu ihrem Präsidenten stehen. Sie denken, er handle zum Wohle des Landes. Das hat er immer versucht. Wenn Krieg nötig ist, dann ist es halt nicht anders möglich.

Ich selbst bin mir nicht mehr ganz so sicher. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass Russland einen starken Mann an der Spitze braucht, der unsere Interessen vehement vertritt.»

Julia Nickel: «Die westliche Berichterstattung ist oft diskriminierend»

«Der Krieg kam komplett überraschend für mich. Als ich davon erfuhr, fühlte ich nur eine Leere in mir. Es war ein Schock. Ich dachte an die Menschen in der Ukraine – und meine eigene Geschichte kam hoch. Auch meine Familie stand mal vor dem Nichts, ich weiss, was es heisst, auf andere angewiesen zu sein. Als ich 13 Jahre alt war, bin ich aus Russland nach Deutschland gekommen.

Meine Eltern leben inzwischen wieder in Sibirien, sie sind nie richtig im Westen angekommen. Ihre Rente bekommen sie aus Deutschland. Inzwischen kann sie aber nicht mehr überwiesen werden. Mein Vater ist an Krebs erkrankt und würde es aus gesundheitlichen Gründen gar nicht mehr schaffen, das Land zu verlassen. Es gibt aber auch keine Flieger mehr, um nach Deutschland zu gelangen. Gleichzeitig werden die Lebensmittel im Dorf meiner Eltern knapp. Auch die Post funktioniert nicht mehr. Uns hier sind komplett die Hände gebunden.

Mit meiner Mutter telefoniere ich regelmässig. Seit Kriegsbeginn weint sie viel.

Die Menschen in Russland haben keine Wahl, die Regierung macht, was sie will. Wer sich gegen den Krieg wehrt, wird verhaftet. Auf den sozialen Medien äussere ich deshalb meine Meinung. Wenn alle aus Angst schweigen würden, entstünde kein gesellschaftlicher Druck.

Ich empfinde die westliche Berichterstattung oft als diskriminierend. Es wird beispielsweise geschrieben, dass Russen auf ukrainische Flüchtlinge schiessen. Das stimmt so nicht. Es sind russische Soldaten. Die Medien verallgemeinern stark, wodurch Stimmung gegen uns erzeugt wird.

Persönlich habe ich bislang keine Anfeindungen erlebt. Ich wohne in einem Dorf, in dem sich alle kennen.

Die Menschen hier wissen, wie ich denke. Aber ich weiss von anderen, die beschimpft worden sind.

Seit Kriegsbeginn fühle ich mich extrem hilflos. Um dem entgegenzuwirken bin ich als Übersetzerin mit einer Hilfsorganisation an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren. Anfangs hatte ich Bedenken, wie die Flüchtlinge auf mich reagieren würden. Doch das war unbegründet. Viele berichteten von russischen Freunden, die sich grosse Sorgen um sie machten. Ich hoffe, das bleibt so. Unabhängig von der Nationalität sollten sich jetzt alle helfen, statt eine Hexenjagd zu starten. Ich will ja wie viele andere auch, dass dieser Krieg sofort endet.»

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189 Kommentare
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Swen Goldpreis
14.03.2022 20:45registriert April 2019
"Wenn Krieg nötig ist, dann ist es halt nicht anders möglich."

Ein Krieg ist nie nötig, zumindest kein Angriffskrieg. Wenn er "nötig" ist, dann heisst das eigentlich nichts anderes, als dass man auf der falschen Seite der Geschichte steht. Gewalt ist nie eine Lösung!
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TanookiStormtrooper
14.03.2022 20:58registriert August 2015
"Oligarchen treffen die Sanktionen weniger, die wissen, wie sie ihr Geld unter anderen Namen verstecken können."
Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Die Oligarchen mögen Geld haben, aber momentan bringt ihnen das absolut nichts. Diese Typen wollen nicht in Moskau rumhocken, die wollen in schönen Villen und Luxusjachten in Europa sein und ihre Kinder in unsere Eliteschulen schicken. Sie profitieren vom System Putin wollen aber ganz sicher nicht dort leben, weil wir ihnen Freiheit und Luxus bieten können.
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bebby
14.03.2022 20:22registriert Februar 2014
Danke für diesen guten Artikel! Es geht im Kriegsgeschrei zu oft vergessen, dass ein Landsmann/eine Landsfrau in der Regel nichts für die Politik seines/ihres Landes kann und dass wir alle Menschen sind.
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