Sie sind aus dem Nationalrat zurückgetreten, um sich ganz dem Kampf gegen den «schleichenden EU-Beitritt» zu widmen. Kämpfen Sie nicht gegen ein Phantom?
Christoph Blocher: Nein. Natürlich will man mir das in Bern unterschieben, um das
Problem ins Lächerliche zu ziehen. Aber die Gefahr ist sehr real.
Der Bundesrat will mit der EU ein Rahmenabkommen abschliessen,
das die Schweiz zwingt, automatisch EU-Recht zu übernehmen, und
den EU-Gerichtshof zum obersten Gericht bei Streitigkeiten macht.
Wenn der Bundesrat damit durchkommt, wachen wir eines Morgens in der EU auf. Weil die Schweizer Bürger dies nicht merken sollen,
will man vor der Volksabstimmung ein Phantom daraus machen!
Ist das ein realistisches Szenario? 80 Prozent der Bevölkerung sind
gegen einen EU-Beitritt.
Das weiss man auch in Bern, darum spricht niemand von
einem EU-Beitritt. Der Bundesrat und die Verwaltung streben
darum ein Rahmenabkommen an, das sie dann als harmlosen bilateralen Vertrag bezeichnen, als «Vertrag über institutionelle
Bindungen», der aber – ob man das will oder nicht – in die EU
führt. Die Politiker werden sich als «Superpatrioten» darstellen und
sagen «Wir wollen nicht in die EU», aber verschweigen, dass die Unterschrift unter den Vertrag in die EU führt. Es geht jetzt darum,
den Leuten klar zu machen, was da läuft und dass man den Widerstand
jetzt vorbereiten muss. Bevor es zu spät ist.
Sie sind bald 74 Jahre alt, haben ein schönes Haus,
einen Chauffeur und Enkel, mit denen Sie spielen könnten. Warum
tun Sie sich das noch an?
Ich bin auch Unternehmer und politisch tätig – wie Sie wissen. Ich
bin als Unternehmer weit in der Welt herumgekommen. Ich kenne
alle europäischen Länder, China, Japan, Amerika, Naher und Ferner
Osten, alle Erdteile und kann Ihnen sagen: Die Schweiz ist ein
besonderes Land. Eigentlich ein armes Land in einer unmöglichen
Situation, ohne Rohstoffe, ohne Meereszugang, der Grossteil des
Landes ist Geröll, kein Binnenmarkt, und trotzdem haben wir
Wohlstand und Lebensqualität, die ihresgleichen suchen. Das hat mit
der Staatsform, der föderalistischen, auf Neutralität ausgerichteten
direktdemokratischen Organisation des Landes zu tun. Diese
verlieren wir, wenn wir der EU beitreten. Deshalb werde ich mich
dafür einsetzen, dass die republikanische Demokratie so bleibt, wie
sie ist. Und dazu ist Unabhängigkeit und die letzte Macht beim Volk
unerlässlich.
Warum überlassen Sie das nicht anderen?
Andere braucht es auch. Diesen Widerstand heute zu führen braucht
sehr viel Mut und Unabhängigkeit, um gegen die Interessen der
vereinigten Classe Politique zu handeln. Ich habe die persönliche
Unabhängigkeit, die es dazu braucht, darum mache ich es.
Trotzdem, Sie kämpfen gegen eine Phantombedrohung. Der EU-Beitritt
steht nicht zur Debatte, solange die Stimmbürger abstimmen
dürfen.
Nochmals: In Bern weiss man natürlich, dass die Schweiz
nur wegen Volkes Stimme nicht in der EU ist. Die EWR-Abstimmung
1992, die den Beitritt verhindert hat,
war für die Classe Politique sozusagen die Urkatastrophe. Seither versucht sie, das Stimmvolk auszuschalten.
Ausschaffungs-Initiative? 2010 beschlossen. Noch nichts passiert.
Die Kriminellen werden gegen den Volkswillen nicht ausgeschafft!
Masseneinwanderungs-Initiative? Nicht umsetzbar, heisst es schon
jetzt. Man setzt den Volkswillen nicht um und verlässt sich auf das
Bundesgericht. Die Masseneinwanderung nimmt zu.
Das Bundesgericht wird uns in die EU urteilen?
Es gibt ein neustes Urteil betreffend eines mazedonischen
Drogenhändlers, dessen Ausweisungsentscheid das Bundesgericht
aufgrund nicht zwingenden Völkerrechts aufgehoben hat. Nicht
zwingendes Völkerrecht bricht also bundesgerichtlich
abgesegnet unser Landesrecht.
Bundesgerichtsurteile sind nicht für immer in Stein gemeisselt. Ihre
Argumentation ist ein bisschen dünn.
Das Bundesgericht hat erklärt, dies sei in Zukunft Praxis.
Tatsache ist, dass im Hintergrund Dinge ablaufen, die
man als Stimmbürger nicht tolerieren darf, wie man bei der
Masseneinwanderungs-Initiative gesehen hat. Von allen Seiten hat
es geheissen, das sei eine verderbliche Abschottungs-Initiative,
die das Land in die wirtschaftliche Misere stürzen wird, und das
Stimmvolk hat trotzdem Ja gesagt. Das ist gut. Es glaubt dem
Abschottungsgespenst nicht!
Das wissen wir noch nicht. In letzter Konsequenz können die
bilateralen Verträge gekündigt werden, dabei sind Sie massgeblich Schuld daran, dass es diese überhaupt braucht.
Ich sage nicht kategorisch Nein zu bilateralen Verträgen. Nur zu
solchen, die unnötig oder schädlich sind. Die Personenfreizügigkeit
ist für die Schweiz unverantwortlich. Wir haben eine jährliche
Zuwanderung in der Grösse der Stadt St. Gallen, das kann die
Schweiz nicht verkraften.
Sie tun so, als könnte man aus den Bilateralen einzelne Abkommen
herauspicken und künden. Das ist Realitätsverweigerung.
Die
Bilateralen gibt es nur ganz oder gar nicht.
Das hat man dem Volk im Vorfeld der Abstimmung zur Genüge um
die Ohren gehauen. Aber die Leute haben es durchschaut. Notfalls
muss man das in Kauf nehmen. Ich habe viele Veranstaltungen
absolviert und gesagt, dass man halt die bilateralen Verträge
künden muss, wenn es dem Bundesrat nicht gelingt, die
Personenfreizügigkeit neu auszuhandeln. Es wird so getan,
als ob die Welt untergehen würde, wenn die EU der Schweiz die
Bilateralen aufkünden würde. Eine Katastrophe wäre dies nicht.
Für die Wirtschaft wird das Leben schon schwerer.
Warum?
Weil die Industrie wieder mit dem Chaos der uneinheitlichen
Produktevorschriften konfrontiert wäre.
Gegen die Ausräumung der technischen Handelshemmnisse haben weder die EU-Länder noch die Schweiz etwas. Es
vereinfacht das Leben der Exporteure, wenn die Glühbirnen und
die Lampenfassungen überall gleich hergestellt werden müssen.
Aber die Industrie hat sich schon lange vor diesen Verträgen
über solche Dinge geeinigt. Das sind Details. Wir haben unsere
Autobahnbeschriftungen auch der EU angepasst, da fällt mir doch
kein Zacken aus der Krone. Aber in den wesentlichen Dingen wie
der Personenfreizügigkeit müssen wir hart bleiben.
Das können wir nicht, dazu fehlt uns das wirtschaftliche Gewicht.
Das ist auch nicht wahr. Der Vertrag sieht ausdrücklich eine Kündigungsklausel vor. Wir sind nach den USA der grösste Abnehmer der EU-Staaten. Diese exportierten 2013 Güter für 170 Milliarden Franken in die Schweiz. Die EU
kaufte bei uns nur für 95 Milliarden Franken. Sie hat kein Interesse, einen solchen Kunden vor den Kopf zu stossen. Natürlich, wenn sie einen Wirtschaftskrieg führen will, kann sie einen Wirtschaftskrieg führen. Aber das ist auszuschliessen. Die Hauptabmachungen sind international geregelt, durch die WTO. Man kann nicht mehr einfach Zölle einführen. Auch die öffentlichen Ausschreibungen sind weltweit festgelegt.
In einem Wirtschaftskrieg würden wir unweigerlich den Kürzeren ziehen.
Die Schweiz ist seit 700 Jahren kleiner und schwächer als
umliegende Staaten. Aber sie hat dem Druck standgehalten. Sie
steht gut da.
Die Welt hat sich aber verändert. Sie ist viel vernetzter, man kann
nicht einfach aussteigen.
Die gleiche Musik wurde 1992 bei der EWR-Abstimmung auch
gespielt. Die verglobalisierte Welt darf kein Grund sein, die
Staatssäulen einzureissen. Wir dürfen uns nicht von aussen
Recht und Gesetze aufzwingen lassen, das ist Abschaffung der
Selbstbestimmung. Die EU lässt sich auch nicht von Drittstaaten die
Personenfreizügigkeit aufdrücken. Warum soll denn die Schweiz
das tun?
Weil wir in der Mitte Europas sind?
1848 haben wir zwischen den Kantonen auch die
Personenfreizügigkeit eingeführt. Weil die Schweiz ein eigener
Bundesstaat wurde. Darum hat man dies auch in der EU eingeführt,
weil sie ein Bundesstaat werden will. Aber wir gehören nicht zur EU. Damals aber war man in der Schweiz noch vorsichtiger. Die
Armengenössigkeit war nicht an den Wohnort gebunden, der
Heimatkanton war zuständig. Wenn ich damals armengenössig
geworden wäre, dann hätte ich ins Armenhaus der Gemeinde
Schattenhalb im Berner Oberland gehen müssen.
Wir stellen uns das kurz vor …
… ja, machen Sie das (lacht). Im Ernst: Die Schweiz hatte
2013 eine Nettoeinwanderung von 84'000 Personen. Das sind prozentual zur Bevölkerung zehnmal mehr als in Deutschland.
Und warum? Weil die Schweiz attraktiver ist, nicht zuletzt wegen der Sozialwerke. Das ist ein integraler Bestandteil der EU-Personenfreizügigkeit:
Dass alle Europäer sich in jedem Land
niederlassen können und auf dem Arbeitsmarkt gleich behandelt
werden müssen wie die Einheimischen.
Was ist Ihrer Meinung nach die Strategie des Bundesrates, um die
Masseneinwanderungs-Initiative EU-konform umzusetzen?
Das weiss ich nicht. Erst hat man gesagt, es sei sowieso
unmöglich, sie umzusetzen. Jetzt heisst es, man setze sie
trotzdem um und tut so, als verhandle man. Aber in Wirklichkeit verhandelt man ja gar nicht. Dann kommt man zurück
und sagt, man habe es nicht geschafft, die EU wolle die
Personenfreizügigkeit, also gilt sie weiterhin.
Was machen Sie dann?
Dann verlangen wir mit einer Volksinitiative, dass der Vertrag über
die Personenfreizügigkeit gekündigt werden muss. Und zwar sofort.
Dann kann keiner mehr sagen, die EU müsse einverstanden sein.
Es gibt aber noch eine hinterhältigere Bundesratstaktik.
Noch hinterhältiger?
Ja, man sagt einfach, man mache den Vertrag über die
institutionelle Bindung. Dieser besagt, dass wir das EU-Recht
automatisch für alle Gebiete übernehmen, die bisherige und neu zu bildende Verträge betreffen. Damit übernimmt man gleichzeitig
auch die Europäische Gerichtsbarkeit für alle Verträge, die wir
mit der EU haben. Da gehört die Personenfreizügigkeit natürlich dazu. Wenn das Schweizervolk dem zustimmt, ist der Mist
geführt, dann haben wir stillschweigend der Personenfreizügigkeit
zugestimmt und schlittern dazu noch in die EU. Auch diese Taktik
gilt es zu verhindern.
Am Ende werden wir bestenfalls eine Art EU-Mitglied ohne
Stimmrecht sein?
Genau, das würde dazu führen. Dann wird man sagen, jetzt
könne man gerade so gut beitreten. Aber soweit muss es nicht
kommen. Wir kommen auch ohne die EU-Mitgliedschaft durch.
Können wir bestehen, ohne uns an einen grossen Machtblock
anzulehnen?
Das ist seit jeher die Gretchenfrage und ich will Sie Ihnen gern
beantworten. Auch 1848 haben alle grossen Staaten gesagt, jetzt
drehen die Schweizer völlig durch. Weil wir eine eigenständige
Verfassung gemacht haben. Alle jene Staaten von damals haben
ihre Verfassung verloren, die Schweiz hat sie noch. Man muss
nicht meinen, man werde als Kleinstaat keinesfalls zum Spielball,
bloss weil man an einen grossen Machtblock angelehnt ist. Das
Gegenteil ist der Fall. Die Schweiz hat schlimme europäische
Zeiten durchlebt, aber sie konnte sich als souveräner Kleinstaat
behaupten.
Und die Kapitulation beim Bankgeheimnis?
Leider hat die Politik nachgegeben. Die Banker hätten auf das
amerikanische Geschäft verzichten können. Aber das wollten die
nicht. Lieber gab man Schweizer Recht preis.
Hören wir da ein Misstrauen gegenüber der Wirtschaft?
Ich halte nichts davon, immer das zu tun, was die Wirtschaft am
liebsten hätte, auch wenn ich mich voll für die Wirtschaft einsetze.
Wenn die Exportwirtschaft einen schwachen Franken verlangt, weil
sie leichter exportieren könnte, vertrete ich dies auch als Exporteur
nicht einfach. Jemand verliert bei einem schwachen Franken. Die
Bevölkerung. Die Leute haben weniger Geld im Portemonnaie.
Exporteure müssen in der Schweiz Produkte herstellen, die man
auch mit einem starken Franken exportieren kann. Es gibt doch kein
Land, das eine schwache Währung will.
Vielleicht braucht man dafür mehr Zuwanderer aus der EU?
Die ungezügelte Personenfreizügigkeit ist für die Unternehmer
angenehm und vorteilhaft, weil sie aus 500 Millionen Leuten
auswählen können, die erst noch günstiger arbeiten. Aber die
Gesamtrechnung geht nicht auf! Dafür stellen viele Unternehmen
über 50-jährige Schweizer nicht mehr ein, die genauso qualifiziert, aber teurer sind. Diese fallen dann der Allgemeinheit zur Last. Und
werden durch jüngere Zuwanderer ersetzt. Das geht nicht auf!
Bei der Ems-Chemie gilt der Inländervorrang?
Bei gleicher Qualifikation ist das der Fall. Aber verpflichtet ist sie
nicht, das zu tun.
Und beim Läckerli-Huus Ihrer Tochter Mirjam?
Da auch. Bloss ist es schwieriger. Sie hat einmal eine
Konditoren-Stelle ausgeschrieben, da hat sich nur ein
Schweizer beworben, und der war offenbar unbrauchbar. In solchen
Situationen erhält man auch einen Ausländer, wenn die neue
Zuwanderungs-Initiative durchgesetzt wird.
SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz hat gesagt, es wäre gut, wenn
die Zuwanderung künftig etwa in der Grössenordnung der Zahl
läge, die der Bundesrat im Jahr 2000 prognostiziert hat. Das wären 10'000
Personen pro Jahr. Genügt das?
Das hat der Bundesrat versprochen. Wir hätten sicher nichts
dagegen. Aber wir wollen uns bewusst nicht auf eine Zahl
festlegen.
Wie wollen Sie das erreichen? Das ist schärfer als Ecopop, und
mit den Vorschlägen der SVP könnte die Zuwanderung sogar
zunehmen.
Nein, der Zuwanderungsartikel führt durch Kontingentierung und Inländervorrang zu weniger Zuwanderung! Das ist bewiesen. Schon
die Einschränkung des Familiennachzugs für Kurzaufenthalter
schenkt ein. Und die Kontingentierung, wie wir sie von 1970 bis
2003 hatten, wird sicher zu einer Reduktion führen. Es geht darum, dass
die Kantone – wie damals – zusammen mit der Wirtschaft, den
Gewerkschaften und den Arbeitsämtern jährlich Kontingente in Bern beantragen. Diese werden dann vom Bundesrat entschieden.
Wir haben den freien Personenverkehr erst seit sieben Jahren. Und
die Unternehmen hebeln das System auch immer mehr aus. Die
Arbeitsämter in den Kantonen wissen, wie viele Arbeitslose da sind.
Erst muss man diese einstellen, bevor man neue Arbeitskräfte holt.
Sie ahnen sicher, was die letzte Frage ist?
Nein, welche meinen Sie?
Wenn es hart auf hart kommt, die Bilateralen gekündigt und
sämtliche Verträge mit der EU neu ausgehandelt werden müssen,
gehen Sie zurück in den Bundesrat und machen das?
Natürlich würde ich mich nicht drücken, wenn ich mit der EU
verhandeln müsste, aber dann muss man die Dossiers bündeln,
weil alles verknüpft ist. Sonst erreicht man nichts. Bundesräte
sollten nicht verhandeln, man muss geeignete Unterhändler nach
Brüssel schicken. Diese muss man führen. Und ich nochmals in
den Bundesrat? Nachdem man mich rausgeworfen hat, fühle ich
mich nicht verpflichtet.