Der Fall erinnert zwangsläufig an die Tötung von George Floyd in den USA. Der Nigerianer Mike Ben Peter, 39, widersetzte sich 2018 in der Nähe des Lausanner Bahnhofs einer Drogenkontrolle. Er wurde geschlagen, mit Pfefferspray traktiert, zu Boden auf den Bauch gedrückt, die Polizisten legten ihm Handschellen an. In dieser Position auf dem Bauch blieb er minutenlang fixiert, er erlitt einen Herzstillstand und starb später im Spital.
Sechs Polizisten wurden am Donnerstag vom Strafgericht in Lausanne vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.
Sicherheitsexperte Markus Mohler, 82, ist ein Verfechter der Rechtsstaatlichkeit. Er war viele Jahre Basler Polizeikommandant und selbst Staatsanwalt. Er verfasste Bücher über diese Rechtsgebiete und ist also beileibe kein Polizeigegner.
Gerade deshalb ist dieser Freispruch für ihn unverständlich. Mohler sagt: «Dieses Verfahren, dieses Urteil richtet in Bezug auf die Glaubwürdigkeit von Justiz und Polizei Schaden an.» Es sei offensichtlich, dass - nach der vielfältigen Medienberichterstattung zu schliessen - die Waadtländer Justiz fundamentale rechtliche Regeln missachtet habe.
Mohler zählt sechs «Auffälligkeiten» in dem Verfahren auf, die seine Aussagen belegen.
«Auffällig ist bereits die Leitung der Untersuchung durch den vorgesetzten Staatsanwalt und eigene Leute der Polizei», sagt Mohler. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft führte das Strafverfahren selber, obschon sich dieses gegen Polizisten richtete, mit denen sie Tag für Tag zusammenarbeitet. «Das ist nach der geltenden Praxis des Menschenrechtsgerichtshofs nicht erlaubt», stellt Mohler fest. Die Unvoreingenommenheit sei nicht gewährleistet. Spätestens in Strassburg würde dieses Urteil gekippt. Aber er hoffe, es komme gar nicht so weit: dass nämlich höhere Schweizer Gerichtsinstanzen die Lausanner Fehler vorher schon korrigierten.
Mohler stellt fest, dass Mike Ben Peter laut den Berichten längere Zeit in Bauchlage festgehalten wurde. Für den Polizei- und Strafrechtsexperten ist das ein ganz entscheidender Punkt. «Seit den Achtzigerjahren weiss man, dass diese Bauchlage sehr gefährlich ist, weil sie zum Herzstillstand, zur sogenannten bauchlagebedingten Asphyxie führen kann.» Alle Polizeiangehörigen müssten das wissen.
Das Festhalten in Bauchlage sei nach Instruktion nicht zulässig. «Es ist verboten, jemanden in Bauchlage länger als unverzichtbar so zu fixieren», sagt Mohler. «Eine verdächtige Person in Bauchlage zu bringen, um ihr Handschellen anzulegen: Das ist, wenn nötig, in Ordnung. Danach muss sie aber sofort wieder umgedreht oder aufgestellt werden. Nach längstens etwa einer Minute sollte die Bauchlage beendet sein.»
Auch der gänzliche Freispruch an sich ist für Mohler eine «Auffälligkeit» in diesem Verfahren. Denn für den Experten steht fest: «Die Polizisten erfüllten durch das beschriebene Verhalten den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung.» Rechtlich gesehen liege diesbezüglich ein Unterlassungsdelikt vor. «Dass man den Angehaltenen auf den Bauch legte, um ihm die Handschellen anzulegen - das war rechtlich wohl in Ordnung.
Dass man ihn danach aber nicht sofort wieder in eine andere Position verbrachte, war eine Unterlassung. Ob die Bauchlage für den Tod ursächlich oder mitursächlich gewesen war oder nicht, spielt dabei rechtlich gar keine Rolle.» Die Polizisten hätten in sorgfaltswidriger Weise eine lebensgefährliche Beeinträchtigung der Herz- und Atmungsfunktion durch Unterlassen verursacht. Einer der beteiligten Polizisten habe gemäss den Berichten auch auf diese Gefahr hingewiesen.
Auffällig ist für Mohler ferner, dass, wie der Berichterstattung zu entnehmen gewesen sei, «alle sechs Polizisten über einen Leisten geschlagen» wurden. «Einer von ihnen war aber wohl der Ranghöchste und trug daher erhöhte Verantwortung», sagt der ehemalige Polizeikommandant. «Die relevanten Verhaltens- und Verantwortungsanteile waren kaum alle gleich.»
Zum tragischen Vorfall kam es, nachdem ein Polizist, der allein auf Patrouille war, Mike Ben Peter dabei beobachtete, wie er ein Säcklein unter einem Auto behändigte. Der Polizist stellte den Verdächtigen und versetzte ihm zwei Kniestösse zwischen die Beine, um ihn zu Boden zu bringen. Nach den Medienberichten war der Kontrollierte nicht gewalttätig geworden. Mohler: «Ein Polizist darf nicht als erster Gewalt anwenden, seine Handlungsweise war daher meines Erachtens unverhältnismässig und ein Amtsmissbrauch.» Dieser Punkt sei offenbar gar nicht untersucht und beurteilt worden.
Der Staatsanwalt selbst hatte im Lauf des Prozesses plötzlich Freisprüche gefordert, weil die Kausalität zwischen Handlungen der Polizisten und Tod des Nigerianers laut medizinischen Gutachten nicht zu beweisen sei. «Dass der Staatsanwalt im Lauf des Verfahrens von der ursprünglichen Anklage abweicht, ist möglich», weiss Mohler. Im Strafprozess gelte vor Gericht das Unmittelbarkeitsprinzip, es könne sich also während der Verhandlung eine neue Beweislage ergeben. Aber in diesem Fall war das offenbar anders. «Auffällig ist, dass der Staatsanwalt seine Meinung aufgrund von Gutachten geändert haben will, die schon vor der Anklageerhebung vorlagen. Das ist doch eher seltsam, denn diese matchentscheidende Beweislage hat sich ja gerade nicht geändert.»
Für Mohler ist klar: «Mit diesem Freispruch leistete die Waadtländer Justiz sich selbst und ihrer Polizei, ihrem Ruf und ihrer Arbeit keinen guten Dienst.» (aargauerzeitung.ch)
Natürlich wissen das Staatsanwaltschaft und Polizei in Lausanne. Sie sitzen in ihrer Allmachtsblase und hofften/hoffen einfach, dass das Urteil keine grossen Wellen wirft und nicht weitergezogen wird.