Tödliche Polizeieinsätze im Kanton Waadt – Bericht wirft neues Licht auf Tod von «Nzoy»
Lausanne erlebte Anfang der Woche zwei Krawallnächte, nachdem der 17-jährige Marvin am Sonntagmorgen ums Leben gekommen war, als er vor einer Polizeikontrolle flüchtete.
In derselben Stadt stellte eine Forschungsgruppe am Montagabend neue Erkenntnisse zu einem Fall eines tödlichen Polizeieinsatzes vor, der ziemlich genau vier Jahre zurückliegt.
Am 30. August 2021 hatte ein Polizist Roger «Nzoy» Wilhelm am Bahnhof Morges mit drei Schüssen getötet. Der psychisch belastete Wilhelm habe die Polizei mit einem Messer bedroht, der Polizist habe aus Notwehr gehandelt, hiess es damals in einer Medienmitteilung der Polizei.
Der private Gegenbericht des Forschungsbüros Border Forensics widerspricht der Darstellung der Polizei. Wilhelm, bei dem kurz zuvor eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war, sei vielmehr auf der Flucht gewesen, seine Hände zum Zeitpunkt der ersten zwei Schüsse offen sichtbar.
Ebenfalls am Montag wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft WhatsApp-Chats von Polizisten der Lausanner Polizei mit rassistischen, sexistischen und diskriminierenden Inhalten aufgedeckt hat. Darunter zum Beispiel ein Bild, auf dem ein Polizist vor dem Graffiti zu Ehren eines Schwarzen Mannes posiert, der bei einem Polizeieinsatz verstorben war – mit Daumen-hoch-Geste. Etwa zehn Prozent des Lausanner Polizei-Corps sollen Teil der Chats gewesen sein.
Dass alle diese Ereignisse fast zeitgleich stattfanden, scheint zufällig. Doch dass seit 2016 fünf Schwarze Männer – Lamin Fatty, Hervé Mandundu, Mike Ben Peter, Roger «Nzoy» Wilhelm und Michael Kenechukwu Ekemezie – bei Polizeieinsätzen im Kanton Waadt ums Leben gekommen sind, wirft strukturelle Fragen auf.
Bericht stellt Notwehr-Aussage infrage
167 Seiten umfasst der Bericht von Border Forensics mit dem Titel «The Death of Roger Nzoy Wilhelm». Zwei Jahre lang hat das Forschungsbüro daran gearbeitet. Beauftragt von einer Kommission aus wissenschaftlichen und aktivistischen Kreisen, die sich der Aufklärung des Todes von Wilhelm verschrieben hat.
Border Forensics hat mithilfe von 2D- und 3D-Verfahren Videoaufnahmen analysiert, um den Tathergang und die Bewegungsabläufe zu rekonstruieren. Die Ergebnisse sind brisant: Glaubt man den Erkenntnissen aus dem Bericht, kann die Darstellung der Polizei kaum stimmen.
Diese hatte den Gebrauch einer Schusswaffe stets damit begründet, dass der Polizist aus Notwehr gehandelt habe, weil er mit einem Messer bedroht worden sei.
Das Forschungsteam von Border Forensics kommt im Bericht zum Schluss: Es habe sich nicht um einen gezielten Angriff mit einem Messer auf einen Polizisten gehandelt. Wilhelm habe vielmehr versucht, vor den vier Ordnungskräften, die ihn umstellten, zu fliehen. Es sei äusserst unwahrscheinlich, dass er das Messer in der Hand gehalten habe, als der Polizist die ersten zwei Schüsse abgegeben habe. Als Wilhelm zu Boden gefallen sei, habe er das Messer vom Boden aufgehoben, nachdem es ihm vermutlich aus der Tasche gefallen sei. Erneut habe er versucht, zu fliehen. Nach dem dritten Schuss sei er liegen geblieben.
Die Polizeibeamten hätten dem am Boden liegenden Wilhelm zuerst Handschellen angelegt und ihn durchsucht. Erst eine zufällig anwesende Pflegefachfrau habe Erste Hilfe geleistet. Wilhelm erlag noch vor Ort seinen Verletzungen. In diesen Beschreibungen stimmen der Bericht und die Polizei überein.
Wilhelm, ein Zürcher mit südafrikanischen Wurzeln, wurde 37 Jahre alt. Seine Familie kämpft seit vier Jahren für die Aufklärung der genauen Umstände seines Todes. Unterstützt wird sie dabei vom aktivistischen Bündnis Justice4Nzoy und der Nzoy-Kommission.
Sie alle sind überzeugt, dass Wilhelm Opfer von rassistischer Polizeigewalt geworden ist. Die Polizei wies den Vorwurf eines rassistischen Motivs stets zurück.
Zweimal wollte die Staatsanwaltschaft den Fall bereits schliessen. Im Mai dieses Jahres musste die Staatsanwaltschaft die Untersuchungen allerdings wieder aufnehmen, nachdem das Waadtländer Kantonsgericht eine entsprechende Beschwerde der Familie gutgeheissen hatte.
Die Sozialwissenschaftlerin Claske Dijkema, die Teil der Nzoy-Kommission ist, schreibt auf Anfrage von watson:
Der bedrohliche Schwarze Mann
Der Bericht von Border Forensics hat erstmals 83 Todesfälle untersucht, die sich zwischen 1992 und 2025 bei Polizeieinsätzen in der Schweiz ereignet haben. Dabei ist die Forschungsagentur erstens zum Schluss gekommen, dass der Kanton Waadt der «tödlichste Kanton» der Schweiz sei, wenn es um Polizeieinsätze geht. Und zweitens, dass Todesopfer überdurchschnittlich oft People of Color sind.
Das Autorenteam hält fest, dass Wilhelm als Schwarze und psychisch kranke Person als doppelt «anders» wahrgenommen worden sei und dies einen tödlichen Ausgang des Polizeieinsatzes statistisch wahrscheinlicher machte.
Der Jurist Tarek Naguib von der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz forscht und lehrt zu Antidiskriminierungsrecht. Auf Anfrage von watson sagt er:
Dadurch eskaliere Gewalt bei Polizeieinsätzen schneller, wenn People of Color involviert seien. Das habe mit tief verankertem Rassismus zu tun, sagt Naguib: «Struktureller Rassismus hat zur Folge, dass dem Menschenleben Schwarzer Personen weniger Wert beigemessen wird.»
Rassistische Stereotype seien weit verbreitet, hätten bei Polizeieinsätzen jedoch besonders gefährliche Auswirkungen. Wenn Schwarze Menschen als bedrohlicher wahrgenommen würden, seien sie dadurch auch eher in Gefahr bei einem Einsatz, sagt Naguib.
Todesfälle in Zusammenhang mit Polizeieinsätzen seien lediglich die Spitze des Eisbergs, sagt Naguib. Darunter liege eine Vielzahl rassistischer Polizeikontrollen, die grösstenteils unsichtbar bleibe. Wegen eines solchen Falles wurde die Schweiz vergangenes Jahr vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Naguib, der verschiedene Antidiskriminierungsverfahren in Zusammenhang mit der Polizei begleitet hat, spricht von einem Abwehrreflex der Polizeibehörden, sobald das Thema institutioneller Rassismus aufkomme: «Die Polizei und die Justiz setzen alles daran, keinen Rassismus feststellen zu müssen.»
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt schreibt auf Anfrage von watson, dass sie zur privaten Ermittlung von Border Forensics keine Stellungnahme abgeben könne. Weder die Auftraggebenden noch eine der Verfahrensparteien hätten ihnen bis am Mittwochnachmittag den Bericht vorgelegt, so der Sprecher. Und weiter:
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft weist ausserdem darauf hin, dass im Mai zusätzliche Ermittlungen angeordnet worden seien, die noch andauern würden. Sobald diese abgeschlossen seien, werde das Gericht über den Fall entscheiden.
«Polizisten geniessen Straffreiheit»
Dass Einsätze, bei denen es zu rassistischer Polizeigewalt oder Racial Profiling kommt, kaum aufgeklärt oder strafrechtlich verfolgt würden, kritisiert auch Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin als Teil des Problems. Er berät die Nzoy-Kommission, die den Bericht über den Tod von Wilhelm in Auftrag gegeben hat, in Rechtsfragen. Zu watson sagt er:
Die Staatsanwaltschaft, die die Fälle untersucht, sei zu nahe an den Polizeibehörden dran, um eine unabhängige Untersuchung zu gewährleisten. «Die Gewaltenteilung funktioniert bei rassistischer Polizeigewalt nicht», sagt Stolkin.
Tatsächlich wurde in der Schweiz noch nie ein Polizeibeamter oder eine -beamtin wegen rassistischer Handlungen verurteilt.
Stolkins Urteil zur fehlenden Aufklärung rassistischer Polizeigewalt ist deutlich: «Das ist ein Versagen des Rechtsstaats.» Er fordert darum eine ausserkantonale und unabhängige Untersuchung, wenn der Verdacht von rassistischer Polizeigewalt besteht.
Zivilgesellschaft schliesst Lücke
Gegenberichte wie jener über den Hergang des Todes von Roger «Nzoy» Wilhelm erfüllten eine wichtige Funktion in der Aufklärung potenziell rassistischer Polizeieinsätze, sagt Jurist Naguib. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Gerichte, unabhängige Untersuchungen in Auftrag zu geben, hält er fest.
Damit Fälle wie jener von Wilhelm dennoch aufgeklärt würden, müsse der Druck der Zivilgesellschaft oder vonseiten der Angehörigen aufrechterhalten werden. Das setze allerdings voraus, dass diese dranbleiben: «Das kostet enorm viele Ressourcen – mentale, finanzielle, soziale und zeitliche», sagt Naguib.
Die Kantonspolizei Waadt nahm gegenüber watson keine Stellung zu den vorgebrachten Vorwürfen, mit dem Hinweis, dass man sich nicht zu laufenden Ermittlungen äussere.
Bezüglich der Chats des Lausanner Corps verkündeten Vertreter der Exekutive am Montag, «grundlegende Reformen» umsetzen zu wollen. Der Stadtpräsident Grégoire Junod (SP) sprach von einem «Problem der systemischen Diskriminierung». Der Polizist, der vor dem Graffiti für den bei einem Polizeieinsatz verstorbenen Mann posiert hatte, wurde mittlerweile entlassen. Vier weitere Polizisten wurden suspendiert.
