Noch am Mittwochmorgen hatte sich der Himmel im Lötschental bedeckt gezeigt. Später weinte er. Die Tragödie, die über Blatten hereinbrach, sie ist unfassbar.
Am Abend, es war kurz nach 19 Uhr, informierten die Behörden, darunter auch Bundesräte und Staatsräte, die Medien. Es war die siebte Medienkonferenz, Journalisten aus allen Landesteilen installierten sich in der kleinen Turnhalle von Ferden. Matthias Bellwald, Gemeindepräsident von Blatten sagte, dass das unvorstellbare eingetroffen sei. Doch er fügte an: «Wir haben das Dorf verloren, nicht aber das Herz.» Blatten habe eine Zukunft. «Helft einander, tröstet einander», so Bellwalds Worte. Sie waren angebracht.
Viele Blattnerinnen und Blattner haben am Mittwoch ihr Zuhause verloren. Ihr Hab und Gut, ihre Haustiere, ihre Fotoalben mit den Bildern, die für unvergessliche Erinnerungen gemacht wurden. Unvorstellbar, wie sich das anfühlen muss. Unvorstellbar, wie so etwas passieren kann.
Das schlimmste Szenario, das sich die Experten ausgemalt hatten, ist in Blatten eingetreten.
Bereits während des gesamten Mittwochs gab es Gletscherabbrüche und Steinschläge. Der Birchgletscher staubte jeweils auf, wenn die Felsbrocken auf ihn einschlugen. Von der Front des Gletschers brachen immer wieder Eismassen ab, teilweise bis hinunter in die Lonza. Gegen 9 Uhr konnte der Schutzdamm zum ersten Mal das Material nicht mehr halten und die Geröllmassen stiessen bis nahe an die Häuser dran.
Dann kam der Bruch.
Um 15.24 Uhr löste sich der Birchgletscher vom Berg und riss tausende Tonnen Schutt und Geröll mit sich.
Der Gletscherabbruch verursachte ein Erdbeben der Stärke 3.1 auf der Richterskala. Eine Person wird seither vermisst.
Der Schuttkegel ist immens. 50 Meter hoch, 200 Meter breit, zwei Kilometer lang, wie Kantonsgeologe Raphaël Mayoraz an der Medienkonferenz sagte. «Drei Millionen Kubikmeter Geröll, die auf dem Gletscher lagen, sind mit dem Eis ins Tal gedonnert.» Das sei ein seltenes Ereignis – ein sehr seltenes. Majoraz geht davon aus, dass das meiste Material im Tal ist. Aber so ganz sicher ist er sich nicht. Ein Rekoflug am Donnerstag soll Gewissheit bringen.
Bundesrat Albert Rösti sprach von einem Jahrtausendunglück – und er versuchte, Trost und Zuversicht zu spenden. «Die Bevölkerung von Blatten», sagte er in der Turnhalle von Ferden, «hat eine Zukunft» – und er rechnete gleichzeitig damit, dass das Ereignis Blatten noch Jahre beschäftigen wird. Und mit dem Dorf das gesamte Tal.
Jan Beutel, Professor an der Universität Innsbruck, sagte gegenüber dem «Walliser Bote», es sei einer der grössten Naturgefahrenprozesse unserer Zeit. Vergleiche zu Bondo etwa mochte Beutel nicht ziehen. Er sagte, das Hauptereignis damals geschah weit hinten in einem Seitental. Erst später sei der Murgang in Richtung Dorf geflossen. «In Blatten sprechen wir von einer ganz anderen Kategorie, weil die Massen direkt in Richtung und auf das Dorf fallen, beziehungsweise gefallen sind.»
Wie gross das Schadensausmass ist, kann derzeit nicht beziffert werden. Nur schon sich in dieser Situation einen Überblick zu verschaffen, ist schwierig – geschweige denn, konkrete Zahle oder Szenarien zu benennen. Sicher ist, der Schaden ist immens. Die Schuttmassen haben sich weit das Tal hinaus in Richtung Wiler gewälzt – verdeckt von der riesigen Staubwolke. Als sich diese lichtete, kehrte Schweigen ein. Menschen bangten um ihre Liebsten, ihre Häuser, ihr Dorf. Und dieses Bangen, es geht weiter. Die Schuttmassen haben die Lonza gestaut. Bereits ist ein See entstanden.
Zwar wurden Bagger und Camions im hinteren Tal stationiert, aber in Anbetracht der gewaltigen Dimensionen des Schuttkegels erscheinen diese wie Miniaturen. Der Kanton Wallis hat die Armee daher um Unterstützung angefragt. Pumpen, Räumungsfahrzeuge und Beleuchtungsmasten wurden angefordert. Doch wie sich der angestaute See verhalten wird, kann heute niemand sagen.
Majoraz sagte, der See könne grösser und grösser werden. Gar ein gewaltiger Murgang sei möglich, sagte er, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, da die Lonza nicht viel Wasser führe.
Trotzdem seien sicherheitshalber Personen, die nahe der Lonza leben, evakuiert worden.
Auch der Krisenstab beim Taleingang von Gampel-Steg sei informiert und in Bereitschaft – für den Fall der Fälle. Doch bestehe für die Gemeinde im Talgrund nur ein «sehr geringes» Risiko für ein Nachfolgeereignis. Der Staudamm von Ferden gibt zusätzliche Sicherheit.
Die Armee machte sich bereits am Mittwochabend auf den Weg nach Blatten. Bundesrat Martin Pfister sagte, dass ein Voraus-Detachement unterwegs sei. Auch weitere Truppen seien angefordert worden. Zu den konkreten Leistungen konnte der VBS-Chef aber noch nichts sagen. Das hänge stark von den Bedürfnissen des Führungsstabes Lötschental ab. Auch Staatsrat Stéphane Ganzer sicherte der Gemeinde jegliche Unterstützung zu. Jetzt seien grosse Anstrengungen nötig.
Ständerat Beat Rieder wohnte der Medienkonferenz am Rande bei. Er sagte, dass es nun extrem wichtig sei, die Strassen zu öffnen und einen Rückstau der Lonza zu verhindern. «Wir müssen zuversichtlich sein. Nicht alles ist zerstört.» Rieder sagte weiter, dass der Absturz des Birchgletschers das Tal prägen und verändern werde. Es sei das grösste Naturereignis in der Geschichte des Lötschentals, «doch Blatten hat eine Zukunft, davon bin ich überzeugt», sagte Rieder.
Die Behörden wollten am Donnerstag an einer weiteren Medienkonferenz über die Entwicklung im Katastrophengebiet orientieren. (aargauerzeitung.ch)