Noch herrschte gutes Wetter, als am Samstagvormittag sechs Skitourengänger in Zermatt aufbrachen. Ihr Ziel: Über den 3590 Meter hohen Col de la Tête Blanche in nur einem Tag nach Arolla – eine Monstertour mit fast 2000 Höhenmetern über hochalpines Gelände und Gletscher. Dabei war klar, dass mit der einsetzenden Südstaulage ein heftiger Schneesturm aufziehen würde.
Tatsächlich hat sich das Wetter dann auch sehr schnell verschlechtert – und das Drama einer Walliser Familie nahm seinen Lauf. Die drei Brüder, ihr Onkel, ein Cousin und eine Freundin aus dem Kanton Freiburg kamen nie in Arolla an. «Die Opfer haben alles getan, um sich zu schützen», hielt der Polizeikommandant der Walliser Kantonspolizei, Christian Varone, am Montagmorgen vor den Medien fest. Offenbar versuchten die Skitourengänger, eine Höhle zu bauen, um sich vor Wind und Kälte zu schützen.
Für Anjan Truffer, Bergführer und Rettungschef der Bergrettung Zermatt, ist klar: «Angesichts dieses Wetterberichts geht man nicht auf solche Touren.» Ob das schlechte Wetter nun eine Stunde früher oder später hereingebrochen sei als prognostiziert, spiele dabei absolut keine Rolle. «Mit Gästen wäre ich niemals zu dieser Tour aufgebrochen, oder wenn, sicher viel früher schon wieder umgekehrt», sagt der Bergführer.
MeteoSchweiz hatte vor dem Wochenende für die Region Wallis vor Windböen von bis zu 130 km/h gewarnt, ebenso von «häufigen Niederschlägen», die gegen Samstagabend ergiebig werden. «Die Prognose ist so eingetroffen, wie wir es vorhergesagt hatten», konstatiert Sarah Baumann von MeteoSchweiz. Beim Gornergrat oberhalb von Zermatt auf 3100 Metern über Meer wurden Windspitzen von 129 km/h gemessen.
Dass sich das Wetter in den Bergen schnell verschlechtern könne, sei an und für sich nichts Aussergewöhnliches, sagt Polizeikommandant Varone. In den Bergen müsse man immer demütig bleiben. «Der Berg entscheidet.»
Der Wettersturz vom Wochenende hat seinen Ursprung in der Südstaulage, die einsetzte, während auf der Alpennordseite ein kräftiger Föhn wehte. Dieses Duo – Staulage und Föhn – ist keine Seltenheit, da beides zusammenhängt. Der im Norden auftretende Föhn, der aus südlicher Richtung die Nordhänge der Berge hinunterfällt, bringt zwar aussergewöhnlich warme Luft bis weit ins Alpenvorland hinein. Berggänger allerdings müssen mit schweren Sturmböen oder gar Böen in Orkanstärke (mehr als 117 Stundenkilometer) rechnen. Wenn der Föhnwind zusammenbricht, ist das ein sicheres Anzeichen für einen Wettersturz.
Ausser den sechs Skitourengängern verzichteten wohl die meisten Bergsteigerinnen und Bergsteiger auf eine Tour im Gebiet der Tête Blanche. Darauf lässt zumindest ein Anruf in der Bertolhütte schliessen: «Von 37 angemeldeten Gästen sagten ohne Ausnahme alle ab», sagt Hüttenwartin Florence Schenk. Die Hütte liegt auf zirka 3300 Metern auf einem Felsgrat, den man normalerweise passiert, wenn man von Zermatt nach Arolla gelangen will – auch auf der Haute Route, einer mehrtägigen Skidurchquerung durch die Walliser Alpen, und während der Patrouille des Glaciers (PdG), einem Skitourenrennen über 4000 Höhenmeter.
An der Bertolhütte kamen die verunglückten Skitourengänger nie vorbei, wie Schenk bestätigt. Am Samstag hatte sich ein besorgtes Familienmitglied bei ihr gemeldet und nachgefragt, weil die Verwandten nicht wie geplant in Arolla eingetroffen waren. Aber: «Wir hatten absolut null Sicht und der Sturm blies mit bis zu 150 Stundenkilometern um die Hütte», so Schenk.
Daraufhin alarmierte das Familienmitglied um 16.03 Uhr die Kantonspolizei und die Kantonale Walliser Rettungsorganisation (KWRO). Zu diesem Zeitpunkt war die Gruppe noch am Leben: Um 17.19 Uhr gelang es einem Mitglied, den Notruf zu wählen. Dadurch gelangten die Rettungskräfte an die Koordinaten der Vermissten: sie befanden sich in einem Gebiet auf rund 3500 Metern über Meer, im Bereich des Col de la Tête Blanche.
Doch zunächst war an eine Rettung nicht zu denken. «Die Wetterbedingungen waren katastrophal», erklärt der Polizeikommandant der Walliser Polizei, Christian Varone. Es windete stark und die Sichtverhältnisse waren schlecht. «Es herrschte absolut kein Flugwetter», ergänzt Anjan Truffer. Zwar seien Retter auf Ski von Zermatt und Arolla aus gestartet, um die Vermissten zu suchen. Doch auch sie mussten ihre Suche etwa um 22 Uhr in der Nacht wegen des schlechten Wetters und der grossen Lawinengefahr abbrechen. Am Sonntag stürmte und schneite es weiter, erst am Abend traf die Wetterbesserung ein.
Um 18.30 Uhr konnten Rettungskräfte per Helikopter in der Nähe der Dent-Blanche-Hütte abgesetzt werden und sich zur Unglücksstelle vorkämpfen. Dort fanden sie die fünf Toten. «Wir arbeiteten 24 Stunden am Tag, um das Unmögliche zu versuchen», sagt Varone - mit neun Helikoptern, einem Super-Puma der Armee und bis zu 35 Rettungskräften. Die sechste Person gilt nach wie vor als vermisst. Rettungschef Anjan Truffer vermutet, dass diese Person das Lawinensuchgerät vielleicht nicht dabei hatte, mit dessen Hilfe man sie aufspüren könnte. Möglicherweise war das Gerät auch nicht angeschaltet oder die Batterien waren leer.
Gemäss der Startliste der Patrouille des Glaciers bereitete sich wohl zumindest ein Teil der verunglückten Skitourengruppe auf den prestigeträchtigen Wettkampf vor. Auch Truffer erzählt, dass die Opfer wie Rennläufer gekleidet waren: Sie trugen demnach dünne Rennanzüge, die kaum Wärme verleihen. Wenn die Temperaturen in tiefe Minusbereiche fallen und ein Schneesturm tobt, friert der Körper damit schnell aus. «Wir kennen das leider allzu gut, dass die Leute mit nicht angemessener Bekleidung in den Bergen unterwegs sind», sagt Truffer. Das gehe in die gleiche Richtung wie Trailläuferinnen und -läufer im Sommer, die in Turnschuhen aufs Matterhorn liefen.
Neben guter Kleidung betont Truffer, wie wichtig das richtige Material für die Orientierung sei: «Das Smartphone gehört da sicher nicht zum geeigneten Werkzeug.» Denn in eisiger Kälte halte der Akku höchstens ein paar Stunden. «Das Beste für die Orientierung sind GPS-Geräte, mit Ersatzbatterien», so Truffer. Auch die «altmodische» Variante mit Karte und Kompass sei eine Möglichkeit. Egal, wofür man sich letztlich entscheide, das Wichtigste sei, den Umgang mit den Orientierungsmaterialien zu beherrschen. Denn sonst nützen auch die teuersten und modernsten Geräte nichts.
Das tragische Unglück erinnert stark an die Tragödie 2018 an der Pigne d'Arolla, einem 3787 Meter hohen Berg nahe Arolla. Das bestätigt auch Rettungschef Anjan Truffer: «Natürlich beginnt man sofort, Parallelen zu ziehen, nicht zuletzt, weil die Wetterprognosen fast eins zu eins gleich lauteten.»
Damals lief eine Skitourengruppe einen Streckenabschnitt der Haute Route, und zwar jenen zwischen der Dix-Hütte und der Vignettes-Hütte oberhalb von Arolla. Am Vorabend war schon klar, dass eine Schlechtwetterfront über das Gebiet ziehen und schlechte Sicht, Schneefall und starke Winde mit sich bringen würde.
Als die Bergsteiger am schicksalhaften 29. April um 6.30 Uhr aufgebrochen waren, herrschte zunächst noch gutes Wetter. Doch bald brach das Unwetter mit voller Wucht über die Skitourengänger herein. Statt abzubrechen, irrte die Gruppe weiter Richtung Gipfel und schliesslich hinunter in Richtung Vignettes-Hütte, die sie aber nie erreichte. In der Nacht mit Windböen von rund 200 Stundenkilometern erfroren sieben Skitourengänger aus der Gruppe von zehn Leuten, rund 550 Meter entfernt von der rettenden Hütte.
Die Ermittlungen der Walliser Staatsanwaltschaft zu den genauen Umständen des aktuellen Unglücks bei der Tête Blanche laufen unterdessen. Generalstaatsanwältin Beatrice Pilloud warnt davor, die verunglückten Personen voreilig zu verurteilen. Aus Respekt vor dem Umfeld der Opfer und den Opfern dürfe man jetzt keine «vorgefertigten Schlüsse» ziehen.
In der Heimatgemeinde der Verunglückten sitzt der Schock derweil besonders tief: «Als die Polizei den Tod von fünf Skitourengängern bestätigte, versetzten wir uns in das enorme Leid der Familie. Die ganze Gemeinde hat am Wochenende wenig geschlafen», sagt Sébastien Menoud, Gemeindepräsident von Vex. Die Familie sei bekannt im 1800-Seelen-Dorf, sie engagiere sich in Vereinen und der Politik. Eines der Todesopfer amtet seit 1. März als Mitglied des Gemeinderates von Vex. «Die Bevölkerung und die Behörden werden viel Solidarität zeigen», sagt Menoud, «aber diese Unterstützung kann die verstorbenen Menschen nicht ersetzen.» (bzbasel.ch)
Nochmals mein herzliches Beileid allen Angehörigen und Freunden der Verunglückten.
Ich spreche den Hinterbliebenen mein herzliches Beileid aus.