Schweiz
Wirtschaft

Fachkräftemangel: Die Schweiz hat ein Migrationsproblem

ZUM 75-JAEHRIGEN JUBILAEUM DER SBB BAHNHOFUHR (1944) STELLEN WIR IHNEN FOLGENES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG --- Italienische Gastarbeiter steigen am 1. Juni 1979 im Hauptbahnhof Zuerich, in den bereit ...
Italienische Gastarbeiter steigen am 1. Juni 1979 im Hauptbahnhof Zürich in den bereits überfüllten Extrazug ein, um für die Wahlen nach Italien zu fahren.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV
Analyse

Die Schweiz hat ein Migrationsproblem – aber nicht so, wie du denkst

In der Schweiz herrscht Fachkräftemangel. Die einzige Lösung: mehr Arbeitsmigration. Doch es fehlen die Menschen.
02.12.2022, 06:0103.12.2022, 10:56
Dennis Frasch
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Seit die Coronabeschränkungen passé sind, boomt die Schweizer Wirtschaft. Die Unternehmen investieren, die Kunden konsumieren. Doch es fehlt an Menschen. Arbeitenden Menschen.

Das Schlagwort dazu: Fachkräftemangel. Aus allen Ecken der Wirtschaft beklagt man Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu finden. Vor allem in den Bereichen Gesundheit, IT und Ingenieurswesen.

Die jüngste Statistik, die dieses Problem verdeutlicht, heisst passend Fachkräftemangel-Index. Er wird jährlich vom Personalvermittler Adecco in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich veröffentlicht. Und er erreichte jüngst einen historischen Höchststand.

Dabei könnte man dem Begriff Fachkräftemangel vorwerfen, das Problem zu verharmlosen. So wie Kritiker es beim Begriff Klimawandel tun. «Klimawandel» suggeriert, dass es sich bei der Erhitzung des Planeten um einen natürlichen, unveränderbaren Prozess handelt.

Der Begriff «Fachkräftemangel» vermittelt den Eindruck, dass man nur mehr Menschen ausbilden müsse. «Dass Qualifikationen und nicht Menschen gesucht würden», wie der Wirtschaftsjournalist David Gutensohn sagt.

Es fehlen jedoch nicht nur Pflegende und Ingenieure, sondern auch weniger qualifiziertes Personal. Es fehlt an Kellnern und Securitys, an Hilfsarbeitern in den Gepäckkellern der Flughäfen und an Putzkräften. Aus wirtschaftlicher Sicht herrscht in der Schweiz kein Fachkräftemangel, sondern ein Menschenmangel. Und derzeit ist keine Lösung des Problems in Sicht.

Die Schweiz, ein Land der Rentner

Die Ursache des Problems ist hingegen klar: «Der demografische Wandel spielt eine erhebliche Rolle», sagt Yanik Kipfer von der Universität Zürich. Er hat am Fachkräftemangel-Index mitgearbeitet.

«Die Babyboomer gehen in Rente, wachstumsschwache Generationen rutschen nach.» 2021 gingen erstmals mehr Erwerbstätige in Pension, als junge Erwachsene auf den Arbeitsmarkt kamen. «Dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren sicherlich nicht lösen», sagt Kipfer.

Alterspyramide der Schweiz

Bild
quelle: bfs

Eine wachsende Wirtschaft ist jedoch fast zwangsläufig auf eine wachsende Bevölkerung angewiesen. Vor allem in einer hoch spezialisierten Wirtschaft wie jene der Schweiz. Das Schreckgespenst der Automatisierung, welche Arbeitsplätze vernichtet, hat sich in den vergangenen 50 Jahren ebenfalls nicht bewahrheitet. Im Gegenteil.

Woher sollen also die zusätzlichen Arbeitskräfte kommen?

Dafür gibt es zwei Optionen: Entweder durch die Mobilisierung des eigenen Arbeitsmarktes, oder durch Migration.

Ersteres würde etwa die bessere Einbindung von Müttern oder Rentnern in den Arbeitsmarkt bedeuten. Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft, zeigte sich gegenüber der NZZ jedoch skeptisch. Die vergleichsweise guten Löhne und grosszügige Altersvorsorge in der Schweiz würden dies verhindern.

Bleibt die Migration.

Die Schweiz, ein Einwanderungsparadies

«Die Schweiz war schon immer abhängig von fremden Arbeitskräften», sagt Migrationsforscher Gianni D'Amato. Er ist Professor an der Uni Neuenburg und Direktor des «Swiss Forum for Migration and Population Studies». Seit dem Ersten Weltkrieg habe die Schweiz nie die nötige Bevölkerung gehabt, um den Durst der Wirtschaft nach Arbeitskräften zu stillen.

ARCHIV --- DIE SCHWEIZ HOLTE IN DEN JAHRZEHNTEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG VIELE ARBEITERINNEN UND ARBEITER AUS DEN SUEDEUROPÄISCHEN LAENDERN INS LAND UM DEN ARBEITSKRAEFTEMANGEL IN DER INDUSTRIE, DER ...
Spanische Gastarbeiter bei ihrer Ankunft 1962 in Genf.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Mit der Umwandlung westlicher Wirtschaften hin zu Dienstleistungsgesellschaften habe sich dieses Problem noch verstärkt. «Deswegen kam es vor zwanzig Jahren auch zu den bilateralen Verträgen und der Personenfreizügigkeit mit der EU», sagt D'Amato. Damit habe man ein zentrales Problem lösen können: Wie kann man Europa zu einem Raum der Mobilität machen, in dem nicht nur Dienstleistungen und Produkte zirkulieren können, sondern auch Menschen? «Das war die Frage. Menschen sind träge. Sie gehen meist erst, wenn der Druck hoch genug ist. Und dann meistens dorthin, wo der Gewinn maximiert werden kann.»

Dank der hohen Löhne funktionierte dies bis anhin hervorragend. Die Statistik ist eindrücklich: Vor zwanzig Jahren hatte die Schweiz etwa 4,1 Millionen Erwerbstätige. Heute sind es 5,3 Millionen. Die Demografie hätte ein solches Wachstum nie ermöglicht. Drei von vier neu geschaffenen Stellen werden von Ausländern besetzt.

Das Seilziehen um die besten Migranten beginnt

Die Abwanderung von Deutschen, Franzosen und Co. ist dem nahen Ausland mittlerweile ein Dorn im Auge. Denn es ist nicht mehr nur die kleine Schweiz, die nicht genügend Leute hat. Die Überalterung der Bevölkerung trifft ganz Europa. «Es wird in Zukunft viel mehr Konkurrenz geben um Arbeitskräfte», sagt Yanik Kipfer von der Uni Zürich.

Das lässt sich bereits heute beobachten. Der französische Botschafter beschwerte sich jüngst im «Tagesanzeiger», dass die Schweiz dringend benötigtes Gesundheitspersonal aus den Grenzregionen abwirbt. Die Pflegenden in der Schweiz verdienten fast so viel wie Direktoren in Frankreich.

Deutschland, ein beliebter Rekrutierungsmarkt für Schweizer Unternehmen, geht einen Schritt weiter: Am Mittwoch beschloss die Bundesregierung, die Einwanderung von Fachkräften zu erleichtern. Ein Arbeitsvertrag soll nicht mehr nötig sein. Wer über eine entsprechende Qualifikation, Sprachkenntnisse oder Berufserfahrung verfügt, soll kommen dürfen. Damit sollen Menschen aus Drittstaaten angeworben werden.

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Früher gingen sie nur für Weihnachten nach Hause: Italienische Gastarbeiter verlassen im Dezember 1964 Zürich und kehren für die Festtage nach Italien zurück.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

In der Schweiz ist dies bis anhin sehr umständlich. Für Menschen aus Drittstaaten gibt es Kontingente. Der ganze Prozess wird von Arbeitsmarktexperten oft als restriktiv und bürokratisch bezeichnet. Grössere Rekrutierungsmärkte wie Indien ziehe man deswegen oft gar nicht erst in Betracht.

Brain-Drain, oder: die Flucht des Humankapitals

Es sind jedoch nicht nur europäische Länder wie Deutschland und Frankreich, die den sogenannten Brain-Drain bekämpfen. Aufstrebende Drittstaaten wie Indien wehren sich mittlerweile auch gegen die Talentabwanderung.

Dass sie den unentgeltlichen Abgang ihrer Arbeitskräfte kritisieren, kann man ihnen kaum übel nehmen. Denn mit dem Abgang junger und/oder gut ausgebildeter Arbeitskräfte wird wirtschaftlicher Fortschritt in den betroffenen Regionen verhindert.

Die SVP hat eine andere Lösung

Aus der Politik gibt es bis jetzt wenig Lösungsansätze. Man überlässt das Problem dem Markt. Eine Ausnahme bildet die SVP.

Anders als die vorherrschende Meinung aus Wirtschaft und Wissenschaft sieht sie die Ursache des Fachkräftemangels nicht bei zu wenigen Menschen, sondern bei zu vielen. «Bis die Personenfreizügigkeit kam, kannten wir das Wort Fachkräftemangel nicht», sagt SVP-Nationalrat Thomas Matter. Viele der Eingewanderten arbeiteten nicht, beanspruchten aber die hiesige Infrastruktur. «Diese Menschen benötigen Service, Krankenpfleger, Ärzte, Lehrer, Schulhäuser. Der Fachkräftemangel hört nicht auf, solange die Spirale der Zuwanderung nicht aufhört.»

Matter und die SVP planen deswegen eine neue Initiative, die Massnahmen vorsieht, falls die Schweiz gewisse Bevölkerungsgrenzen überschreitet. Die genaue Ausgestaltung ist noch offen, bei 10 Millionen Schweizerinnen und Schweizern ist aber die Rede von der Kündigung der Personenfreizügigkeit und des UNO-Migrationspaktes.

Am liebsten hätte Matter eine Rückkehr der Kontingente auch für EFTA-Staaten. Denn: «Wächst die Schweizer Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren so stark wie in den letzten 20, würde die Schweiz das nicht überleben».

Wer Wirtschaftswachstum will, muss eine 10-Millionen-Schweiz in Kauf nehmen

Die SVP steht mit dieser Ansicht ziemlich allein da. Geläufiger ist die Meinung, dass der weltweite Wettbewerb um Arbeitskräfte stärker werden wird. «Ein hoher Lohn wird in Zukunft nicht mehr reichen», sagt Yanik Kipfer. «Das ganze Package muss stimmen».

Gelinge es der Schweiz nicht, ausländische Arbeiter anzuziehen, wäre ein Wirtschaftswachstum nicht mehr möglich, sagt auch Gianni D'Amato. «Unsere Gesellschaft funktioniert unter der Prämisse des Wachstums. Stagnation ist keine Option. Ausser, die ganze Welt macht mit. Aber das ist illusorisch.» Wer also Wirtschaftswachstum will, müsse auch eine 10-Millionen-Schweiz in Kauf nehmen.

Auf lange Sicht wird es jedoch immer schwieriger werden, genügend Menschen aus dem Ausland zu holen. Selbst den jüngsten und babyreichsten Nationen wird vorausgesagt, dass sie die Demografie einholen wird. Die Weltbevölkerung soll ab Mitte dieses Jahrhundert wieder sinken.

Wem auch immer man deswegen Glauben schenken will: Die Schweiz hat ein Migrationsproblem.

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288 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Rethinking
02.12.2022 06:19registriert Oktober 2018
Es gibt eine weitere, Sinnvollere Option:

Umbau der Systeme, weg von Wachstum hin zu erhalt…
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Rethinking
02.12.2022 06:26registriert Oktober 2018
Endlich kommen die Arbeitnehmer an den längeren Hebel…

Nutzen wir es!

Tretet einer Gewerkschaft einem Angestellten Verband bei und kämpft für bessere Arbeitsbedingungen!

Nächstes Jahr werden die Meisten einen Reallohnverlust hinnehmen müssen währendem die Dividenden weiter sprudeln…
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du_bist_du
02.12.2022 06:29registriert Mai 2020
Entweder beachte ich gewisse Punkte nicht oder der Artikel hat Widersprüche.
Die Babyboomer gehen in Rente und Kinder werden zu wenig produziert um ein rasches Bevölkerungswachstum zu bewirken. Trotzdem ist die Schweiz um 2 Millionen Menschen gewachsen in den letzten 30 Jahren. Was arbeiten den die alle? Oder hat man nur alleinstehende Männer geholt die ebenfalls jetzt vor der Pension stehen und keine Kinder haben?
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288
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