Gut denkbar, dass die Bevölkerung dieses Jahr um 200'000 Personen wächst. Im ersten Halbjahr kamen 100'000 Menschen neu in die Schweiz: über 60'000 Flüchtlinge aus der Ukraine, über 30’000 Menschen per «reguläre» Migration – und fast 7000 Asylsuchende. Damit kratzt die Schweiz an der 9-Millionen-Grenze, wie CH Media kürzlich schrieb.
Die liberale NZZ warnte am Samstag auf der Frontseite: In etwas mehr als 20 Jahren seien über zwei Millionen Menschen zugezogen. Doch die Politik schweige – selbst die SVP. Nicht die Europapolitik sei der Elefant im Raum, wie es Operation Libero sage. Sondern die Einwanderungspolitik.
Recherchen zeigen nun: Bei der SVP tut sich einiges in Sachen Zuwanderungspolitik. Die Partei arbeitet an einer «Nachhaltigkeits-Initiative». Man könnte sie auch als Brems-Initiative bezeichnen: Sie soll das Bevölkerungswachstum eindämmen.
Bereits liegen konkrete Vorschläge vor. So soll der Bundesrat zu ersten Massnahmen gegen die Zuwanderung gezwungen sein, sobald die Schweiz die Schwelle von 9 Millionen ständiger Wohnbevölkerung überschreitet. Ein Tag, der nicht mehr allzu fern ist. Ende 2021 zählte die Schweiz 8'736'500 Personen.
Sollte die Zuwanderung die ständige Wohnbevölkerung auf 9,5 Millionen Menschen steigen lassen, müsste der Bundesrat gemäss SVP-Vorstellung die Personenfreizügigkeit mit der EU neu aushandeln.
Richtig ernst würde es für die Regierung, wenn die Schweiz die 10-Millionen-Marke knackt. Dann müsste sie die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen. Auch den UNO-Migrationspakt müsste sie beenden, sofern er dann unterschrieben ist.
Die SVP klärt zurzeit ab, ob weitere internationale Verträge das Bevölkerungswachstum ankurbeln. Wenn ja, fallen auch sie unter die Wachstumsbremse, welche die SVP analog zur Schuldenbremse bei den Finanzen einführen will.
Die Partei will die Initiative mit dem Etikett «Nachhaltigkeit» versehen, um sie aus der rechten Zuwanderungsecke herauszuholen und breitere Bevölkerungsgruppen anzusprechen – bis weit in die Mitte hinein.
SVP-Nationalrat Thomas Matter bestätigt die Überlegungen. «Wir planen eine Initiative, die nachhaltige Lösungen vorschlägt», sagt er. «Es liegen bereits inhaltliche Vorschläge vor für den Initiativtext.»
Zum Inhalt will Matter nichts sagen. Er betont aber, die «massive Zuwanderung» habe die Schweizer Bevölkerung in den letzten zwanzig Jahren seit Einführung der Personenfreizügigkeit um 21 Prozent wachsen lassen. «Das sorgt auch für 21 Prozent mehr Stromverbrauch und für Probleme bei Umwelt, bei Natur, Wasser und bei der Ernährungssicherheit. Das hat nicht mehr viel mit Nachhaltigkeit zu tun.»
Matters Wortwahl ist ein starkes Indiz dafür, dass die SVP tatsächlich mit dem ökologisch besetzten Begriff Nachhaltigkeit operiert.
Nur scheint es in der SVP umstritten, wie dringlich die Pläne einer solchen Initiative sind. Das hat wohl auch damit zu tun, dass gegenwärtig trotz starker Zuwanderung Fachkräftemangel herrscht. Dieser ist zurzeit eines der grössten Probleme der Wirtschaft.
Einiges deutet darauf hin, dass parteiintern die geplante Bauern-Initiative Vorrang hat. Das hängt damit zusammen, dass Wahlkampfleiter Marcel Dettling die Versorgungssicherheit zum grossen SVP-Thema im Wahljahr 2023 machen will. «Die Versorgungssicherheit wird ein grosses Thema sein», bestätigt er. «Bei der Energie und bei der Ernährung.»
Was die Energie betrifft, dürfte die Partei die «Blackout-stoppen-Initiative» unterstützen. Das bestätigt Dettling. Nationalrat Christian Imark, der im Initiativkomitee sitzt, rät diesem sogar: «Das Komitee sollte die SVP offiziell um Unterstützung anfragen.»
Was die bessere Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln betrifft, haben Wahlkampfleiter Dettling und Programmchefin Esther Friedli im «Blick» eine Bauern-Initiative angekündigt. Sie will den Selbstversorgungsgrad bei der Ernährung auf mindestens 60 Prozent heben.
«Sie wird wegen des Kriegs in der Ukraine und wegen der Bundesratsentscheide zur Agrarpolitik 2022+ und zum Absenkpfad Pestizid längerfristig ein Thema bleiben», sagt Dettling. «Wir kommen damit auf einen historisch tiefen Selbstversorgungsgrad von unter 50 Prozent.»
Auch Dettling weiss aber, dass die Zuwanderung «über kurz oder lang» wieder «zum grossen Thema» wird. «Offenbar will die EU den Status S um sechs Monate verlängern», sagt er. «Das würde dann die Mitte-links-Mehrheit im Parlament wohl autonom nachvollziehen.»
Dagegen wehre sich die SVP aber. Gemäss Justizministerin Karin Keller-Sutter werde der Status S nach fünf Jahren automatisch in eine Aufenthaltsbewilligung B umgewandelt. «Und zurzeit sieht es nicht so aus», sagt Dettling, «als ob der Bundesrat den Status S bald wieder abschaffen könnte.»
Unklar ist bei beiden Initiativen, ob sie von der SVP selbst lanciert werden – oder von einem unabhängigen Komitee. Dettling sagt, das sei «nicht abschliessend» geklärt.
"Wie viele SVPler braucht es, um ein Problem zu lösen?
Diese Frage kann nicht beantwortet werden, weil es dazu schlicht keine Daten gibt."