Ja, der Onlinemarkt von Migros ist heute bereits voll mit Alkohol. Das fiel insbesondere im Coronajahr vielen auf, als pandemiebedingt Teigwaren, Saucen, Milch und eben Bier oder Wein online bestellt wurden. Letzteres vermisste man aber bislang in den Filialen vor Ort: Die Migros-Regale sind alkoholfrei.
Das war schon immer so und das wusste man landauf, landab. Manche erinnerten sich gar an den Grund für diese ungewöhnliche Abstinenz: Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler, liebevoll «Dutti» genannt, wollte es so. Und daran hielten sich die Chefinnen und Chefs der Genossenschaft. Im Herbst könnte diese uralte Regel kippen, wie die «Sonntagszeitung» berichtete: Einzelne Genossenschaftsmitglieder sollen Anträge gestellt haben, über die «Alkoholfrage» abzustimmen.
Die Diskussion kommt nicht zum ersten Mal. Seit Jahrzehnten wird immer wieder das Verbot infrage gestellt, das vermeintlich jeder ökonomischen Logik widerspricht. Zuweilen wird der orange Riese gar als «heuchlerisch» bezeichnet, weil in Einkaufszentren regelmässig neben einer Migros ein Denner steht – oder im Internet selbst für Wein und Bier geworben wird.
So wurde sie etwa vor 25 Jahren geführt, als Migros das Edelwarenhaus Globus kaufte. Damals herrschte ein Tauziehen zwischen jungen und alten Manager-Generationen, zwischen der Duttweiler-treuen älteren Garde und jüngeren Kadermitgliedern. So wurde kritisiert, der Alkohol- und Tabakverkauf werde durch die Hintertür eingeführt. Der Vorwurf der Statutenverletzung und der Abkehr von historischen Unternehmenswerten wurde laut.
Die Debatte änderte jedoch nichts: 2003 fand der Online-Supermarkt «LeShop» (heute «Migros Online») eine Lücke in den Statuten, 2007 folgte die Übernahme von Denner, der durch sein breites Alkoholsortiment bekannt ist. Daneben gab es noch die vielen Voi- oder Migrolino-Läden, wo beinahe blasphemisch und sogar in Ausgangsvierteln wie der Zürcher Langstrasse Bier, Zigaretten und Schnaps verkauft wird.
Der jüngste Versuch, die Migros bei der «Alkoholfrage» neu zu orientieren, soll der «Sonntagszeitung» zufolge schon bald kommen. Anders als bei anderen Detailhändlern, entscheidet darüber aber nicht ein CEO oder ein Verwaltungsrat «top to bottom»: Als basisdemokratische Genossenschaft liegt es an den über zwei Millionen Genossenschaftsmitgliedern, über die Ausrichtung des Unternehmens zu entscheiden. Das Alkohol-verbot steht nicht etwa in einem formlosen Leitbild, sondern in den rechtlich bindenden Statuten der zehn regionalen Genossenschaften sowie des Genossenschaftsbunds.
Auf nationaler Ebene heisst es in den Statuten, dass sich die Regionen verpflichten, «auf den Verkauf von alkoholischen Getränken und Tabakwaren zu verzichten». Ein Antrag will dieses Verbot streichen, ein zweiter will ihn beibehalten. Beim dritten Antrag soll nur das Alkoholverbot kippen.
Eine erste Abstimmung darüber wird es im November an der Delegiertenversammlung geben. Wird dort für eine Lockerung entschieden, kommt es zur Urabstimmung, wo alle zwei Millionen Genossenschaftsmitglieder befragt werden. Gibt’s von denen ein «Ja», werden wiederum die regionalen Genossenschaften selbst über ihre Ausrichtung in der «Alkoholfrage» entscheiden können.
Sprich: Die Diskussion könnte fast schon ähnlich landauf, landab geführt werden, wie es die Schweiz bislang bei eidgenössischen Volksabstimmungen kannte. Einen Tag nach der Debattenlancierung in der «Sonntagszeitung» herrscht zwar – wohl ferienbedingt – Ruhe in den regionalen Genossenschaften. Aus dem Hauptquartier in Zürich heisst es, dass man «keine Häufung an Rückmeldungen zum Thema ‹Alkoholverkauf› festgestellt» habe.
Angefragte Expertinnen und Experten warnen jedoch bereits. So sagt etwa Monique Portner-Helfer von der Organisation Sucht Schweiz einleitend, dass das Alkoholverbot schon lange verwässert wurde. Es habe aber bis heute positive Wirkung bei der Suchtprävention gehabt: «Man muss sich die Situation von alkoholkranken oder abstinent lebenden Menschen vorstellen: Sie sind vielleicht froh darüber, wenn sie in einem Laden ihre alltäglichen Einkäufe tätigen können, ohne an Alkohol erinnert zu werden». Das zeige sich bildlich in Dörfern, wo nur die Migros als Detailhändlerin präsent sei: «Dort muss eine Person einen grösseren Aufwand auf sich nehmen, um alkoholische Getränke kaufen zu können.»
Grosse Sorgen äussert sie auch bei den Auswirkungen auf marktwirtschaftliche Fragen: «Wird der Preiskampf beim Alkohol grösser, wenn ein weiterer grosser Detailhändler solche Produkte verkauft? Heute ist es ja bereits möglich, sich für zwei Franken einen Rausch anzutrinken.» Würde der Preis noch weiter sinken, sei das aus Präventionssicht «fatal», sagt Portner-Helfer weiter.
Etwas diplomatischer äussert sich alt SP-Nationalrat Philipp Hadorn, der im Vorstand des Blauen Kreuzes ist. Er will die Möglichkeit, dass die Migros sich in der Alkoholfrage umpositionieren könnte, nicht verteufeln. «Die ganze Diskussion kommt jetzt aber ohne Not auf: Die Migros fuhr jahrelang gut mit ihrer Entscheidung, keine Suchtmittel zu verkaufen. Es passte auch zu ihrer sozialen Linie: Duttweiler wollte als Grossist günstig Lebensmittel an Arbeiterinnen und Arbeiter verkaufen.»
Hadorn lässt die Frage offen, ob dies heute noch notwendig sei. «Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es viele Menschen in unserem Land gibt, die sich leider Gottes nicht immer beim Alkoholkonsum kontrollieren können. Ihnen half gewissermassen die Migros – und das jetzt über Bord werfen? Das verstehe ich nicht.»
ich schätze es sehr, dass das in den Migros-Filialen einfach kein Thema ist und finde das erhaltenswert!