Herr Siegenthaler, der Medianlohn ist laut der Lohnstrukturerhebung des Bundes von 2014 bis 2016 um 5 Prozent gewachsen. Grund zur Freude für die Arbeitnehmer?
Michael Siegenthaler: Der Medianlohn ist bei solchen Fragen meist aussagekräftiger als zum Beispiel der Durchschnittslohn. Wenn der Medianlohn um 5 Prozent gestiegen ist, heisst das, dass nicht nur die Topeinkommen, sondern auch der Mittelstand mehr Lohn hat. Und ein Lohnwachstum von 5 Prozent ist beachtlich.
Warum?
Weil das Wirtschaftswachstum in diesem Zeitraum geringer war als das Lohnwachstum. Das ist nur selten der Fall.
Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass die Löhne über kurz oder lang nicht stärker wachsen können als die Firmen und ihre Wertschöpfung. Das ist ein Grund, wieso in den Jahren 2017-2018 die Löhne wieder weniger stark gewachsen sind.
Trotz des erfreulichen Lohnanstiegs gab es auf der anderen Seite 73'000 Tieflohnstellen mehr als noch 2014. Sollten wir besorgt sein?
Der allgemeine Befund der Lohnstrukturerhebung 2016 deutet nicht daraufhin, dass sich die Lohnunterschiede vergrössern. Im Gegenteil: In der Schweiz schliesst sich die Lohnschere sogar leicht. Der Anteil Tieflohnstellen ist ja im langjährigen Vergleich ebenfalls gesunken. Im Vergleich zu anderen entwickelten Ländern bildet die Schweiz dabei eine Ausnahme. In den USA und Deutschland öffnet sich die Lohnschere zum Beispiel.
Weniger gut steht die Schweiz aber in Sachen Geschlechterunterschied da.
Das ist richtig. Die Schweiz ist zwar nicht das einzige Land, das mit diesem Unterschied zu kämpfen hat, jedoch ist dieser hierzulande stärker ausgeprägt. Das Phänomen der «Gläsernen Decke» zum Beispiel ist in der Schweiz besonders stark ausgeprägt.
Gläserne Decke?
In der Schweiz gibt es nur wenig Frauen in hohen Kaderpositionen. Frauen erreichen in der Karriere oft einen Punkt, an dem ihr Aufstieg aus teils unerklärbaren Gründen gestoppt wird. Dann stossen sie auf die «Gläserne Decke». Interessant ist dabei, dass Frauen, die es trotzdem in hohe Positionen schaffen, immer noch weniger verdienen als die Männer auf gleicher Ebene. Dies obwohl sie in den meisten Fällen ein härteres Auswahlverfahren hinter sich haben.
Wie auch bei der Geschlechterdifferenz bleiben die regionalen Unterschiede in der Schweiz bestehen. Warum?
Solche regionalen Unterschiede lassen sich nur sehr schwer beseitigen. Sie entstehen zum Beispiel wegen den unterschiedlich hohen Lebenshaltungskosten oder wegen der unterschiedlichen Branchenstruktur in den Regionen. Und die Pharma-Branche in Basel oder der Bankenplatz in Zürich drücken auch das Lohnniveau der anderen Branchen an diesen Standorten in die Höhe.
Erstmals sind seit einigen Jahren auch wieder die Boni gestiegen. Machen die Banken nun wieder die gleichen Fehler wie vor der Krise?
Das ist schwer einzuschätzen. Aber der Anstieg ist auch mit dem leichten Aufschwung in der Branche zu erklären. Auch die Börse lief in den letzten Jahren recht gut. Gute Börsenjahre haben ebenfalls stets eine Auswirkung auf die Höhe der ausbezahlten Boni.
Interessant ist auch, dass Ausländer in tieferen Positionen schlechter verdienen als Schweizer, in hohen Positionen aber deutlich mehr. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Das ist tatsächlich erstaunlich. Grundsätzlich ist es so, dass Migranten im Allgemeinen schlechter verdienen als Einheimische, was zum Teil mit Lohndiskriminierung von Ausländern zu tun hat und zum Teil auch mit ihren Kompetenzen, beispielsweise mit ihren Sprachkenntnissen.
Warum also diese Ergebnisse?
Vielleicht handelt es sich einfach um einen Vergleich von Äpfeln mit Birnen: Ausländer in Kaderpositionen sind in der Schweiz eher die Ausnahme, und sie kommen vor allem in grossen internationalen Unternehmen vor. Wenn man nun also die Löhne von Schweizer Kaderleuten in einheimischen KMUs mit ausländischen Kaderleuten bei Google und Novartis vergleicht, ergibt sich natürlich ein Unterschied.
Das ist alles?
Ein weiterer Erklärungsgrund könnte sein, dass ausländische Personen, die Kaderpositionen besetzen, auch ein härteres Auswahlverfahren durchlaufen mussten. Nur schon um als Ausländer in Betracht zu kommen, ist schwieriger. Das könnte ein Grund sein, dass sie besser bezahlt werden, wenn sie sich durchsetzen.