
Mit ihrer Begrenzungsinitiative erlitt die SVP 2020 deutlich Schiffbruch. Jetzt aber ist das Thema zurück.Bild: KEYSTONE
Analyse
Die Schweizer Bevölkerung wächst und wächst, gleichzeitig werden immer weniger Wohnungen gebaut. Darin steckt Zündstoff, doch während die SVP eine neue Initiative plant, steckt die Gegenseite wie gehabt den Kopf in den Sand.
04.01.2023, 12:1506.01.2023, 06:30
Im Februar 2014 ereignete sich in der Schweiz ein politisches Erdbeben. Das Stimmvolk sagte knapp Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Es war Ausdruck des Ärgers über die starke Zuwanderung. Und die Quittung für jene Teile von Politik, Medien und Wirtschaft, die ihre «Kollateralschäden» totgeschwiegen und kleingeredet hatten.
Passiert ist seither kaum etwas. Die Initiative wurde mit einer sirupverdünnten Variante namens «Inländervorrang light» umgesetzt. Die Proteste hielten sich in Grenzen, obwohl über die Personenfreizügigkeit mit der EU weiterhin viele Menschen ins Land kamen. Ein boomender Wohnungsbau konnte das Bevölkerungswachstum absorbieren.

In der Schweiz leben immer mehr Menschen.Bild: KEYSTONE
Die SVP versuchte, das Thema Zuwanderung weiter zu bewirtschaften, mit geringem Erfolg. Im September 2020 wurde ihre Begrenzungsinitiative, eigentlich eine Durchsetzungsinitiative zum Volksbegehren von 2014, mit mehr als 60 Prozent Nein versenkt. Nun aber deutet alles darauf hin, dass die Zuwanderungsdebatte nach einigen Jahren relativer Ruhe zurück ist.
Die 9-Millionen-Schweiz
Die «SonntagsZeitung» widmete dem Thema in ihrer jüngsten Ausgabe einen Schwerpunkt. Denn schon 2023 dürfte die Schweiz 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählen, zwei Jahre früher als vom Bundesamt für Statistik prognostiziert. Neben den Flüchtlingen aus der Ukraine ist dafür die anhaltende Rekrutierung von Arbeitskräften verantwortlich.
Die in letzter Zeit oft glücklose SVP wittert im Wahljahr 2023 ihre Chance. An ihrer jährlichen Kadertagung Ende Woche in Bad Horn (TG) will sie eine weitere Zuwanderungsinitiative lancieren, mit dem anmächeligen Titel «Nachhaltigkeitsinitiative». Dabei verfolgt die Volkspartei damit ihr ewiges Ziel: die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens.
SVP setzt auf Nachhaltigkeit
Alter Wein in neuen Schläuchen? So sieht es aus, doch mit dem Thema Nachhaltigkeit trifft die SVP einen wunden Punkt. Die Schweiz ist ein kleines Land, dessen bebaubare Fläche durch die Topografie erst noch eingeschränkt ist. Eine immer grössere Bevölkerung wird zur Herausforderung für Landwirtschaft und Naturschutz, vor allem die Biodiversität.

Mehr Einwohner steigern die Nachfrage, auch in den Spitälern. Also müssen noch mehr Leute geholt werden.Bild: KEYSTONE
Daneben gibt es mindestens zwei weitere Gründe, um die hohe Zuwanderung kritisch zu beleuchten. Die Bereitschaft dazu ist bislang allerdings überschaubar.
Wachstum
In den letzten 30 Jahren ist die Schweizer Bevölkerung um mehr als 25 Prozent gewachsen. Dies wird gerne als unvermeidliche Folge einer florierenden Wirtschaft dargestellt. Sie hat vor allem seit dem Jahr 2000 ein beachtliches Wachstum verzeichnet – zumindest auf dem Papier. Bei genauer Betrachtung aber war längst nicht alles Gold, was da geglänzt hat.
Die Reallöhne etwa haben mit dem Wachstum nicht Schritt gehalten. Das erstaunt wenig, denn die Wirtschaft hat parallel mit der Bevölkerung zugelegt. Die Schweiz hat ein quantitatives Wachstum erlebt, aber kaum ein qualitatives in Form von höherer Produktivität. Oder simpel ausgedrückt: Die Wirtschaft ist gewachsen, weil immer mehr Leute Geld ausgeben.
Untermauert wird dies durch eine Untersuchung der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Demnach nahm in den letzten 30 Jahren das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in der Schweiz nur um 29 Prozent zu. Deutschland kommt auf 36 Prozent, und selbst Japan, das sich seit 30 Jahren im Kriechgang befindet, hatte ein Pro-Kopf-Wachstum von 20 Prozent.
«Man holt mehr Leute, als man effektiv braucht.»
Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker
«Die Schweiz wächst seit Jahren vorwiegend in die Breite», folgerte die NZZ. Also quantitativ. Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann zog im Interview mit der «SonntagsZeitung» ein drastisches Fazit: «Man holt mehr Leute, als man effektiv braucht.» Verantwortlich dafür sei vor allem der staatliche und staatsnahe Sektor (Spitäler, Schulen, öffentlicher Verkehr etc.).
Die durch die Immigration erhöhte Nachfrage nach Infrastruktur und Dienstleistungen verursache «automatisch einen neuen Fachkräftemangel», so Straumann. Am Ende sei es ein Nullsummenspiel: «Wir haben zwar Vollbeschäftigung, eine stabile Wirtschaft und Wachstum, aber der Wohlstand pro Kopf wächst nur langsam und kommt längst nicht allen zugute.»
Wohnen

Die Wohnbautätigkeit hat laut einer Raiffeisen-Studie «ein bedenklich tiefes Niveau erreicht».Bild: KEYSTONE
Das Einfamilienhaus mit Umschwung ist eine ökologisch fragwürdige Wohnform, aber für viele Menschen die Erfüllung ihres Wohlstandstraums. Für Normalverdiener aber ist er eher zum Trauma geworden, ausser sie haben viel Glück oder «Vitamin B». Und selbst bei den Eigentumswohnungen wird es in der Schweiz zunehmend schwierig.
«80 Prozent der Menschen, die sich in der Schweiz Wohneigentum wünschen, können sich dies – nach eigenen Angaben – nicht leisten», heisst es in einer Studie des Bundesamtes für Wohnungswesen. Grund seien zu hohe Preise und ein zu kleines Vermögen. Sie möchten, «dass der Erwerb von Eigenheimen stärker gefördert wird».
Allerdings verweisen Experten darauf, dass jede Massnahme zur Eigentumsförderung die Preise weiter in die Höhe treibt. Denn das Bauland in der Schweiz ist knapp, und mit der Zuwanderung schmelzen die Reserven weiter zusammen. Und eine stärkere Zersiedelung des Mittellands ist weder ökologisch noch politisch wünschenswert.
«Die Wohnbautätigkeit hat mittlerweile ein bedenklich tiefes Niveau erreicht.»
Raiffeisen-Immobilienstudie
Daraus können Ressentiments gegen Immigranten entstehen. Vor allem die gut verdienenden Fachkräfte werden als Konkurrenz empfunden. Und selbst bei den Mietwohnungen bahnt sich eine Zuspitzung an. Die neuste Immobilienstudie der Raiffeisen-Gruppe trägt den vielsagenden Titel «Unaufhaltsam in Richtung Wohnungsnot».
«Die Wohnbautätigkeit hat mittlerweile ein bedenklich tiefes Niveau erreicht», schreiben die Autoren um Chefökonom Martin Neff. Verantwortlich seien extrem hohe Baulandpreise, rigide Bau- und Zonenordnungen sowie eine «äusserst einsprachefreudige Bevölkerung». Fazit: «Schon bald wird das Thema weit oben auf der politischen Agenda zu finden sein.»
Wer eine bezahlbare Wohnung sucht, kann bereits heute einiges erzählen, vor allem in den Zentrumslagen. Mit einem anhaltenden Bevölkerungswachstum wird sich das Problem verschärfen. Mieterinnen und Mietern stünden harte Zeiten bevor, heisst es in der Raiffeisen-Studie. Es drohten Mietzinserhöhungen um bis zu 10 Prozent bis 2024.
Darin steckt beträchtlicher Zündstoff, politisch und gesellschaftlich, vor allem, wenn sich die Katze weiterhin in den Schwanz beisst: Immer mehr Menschen haben immer mehr Bedürfnisse, die zusätzliche Zuwanderung auslösen. Weite Teile der Politik von links bis Mitte-rechts und der Wirtschaft aber stecken wie vor 2014 den Kopf in den Sand.
Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Co-Präsident der Stadtzürcher SP. Er will die Gelder für die Standortförderung kürzen und das Wachstum des Flughafens bremsen. Die Reaktion von Stadtpräsidentin Corine Mauch war typisch: «Durch die Streichung dieses Beitrags würde keine günstige Wohnung mehr entstehen», sagte sie dem «Tagesanzeiger».
Dessen Chefredaktor bezeichnete die Forderung in einem Kommentar als «naive und provinzielle Sichtweise». Zürich befinde sich in einem harten Wettbewerb mit anderen Ballungsräumen. Die Devise müsse lauten: «Das Wachstum nicht bremsen, sondern lenken.» Wie das angesichts des erlahmenden Wohnungsbaus geht, wird nicht ausgeführt.
Wahlkampfschlager für die SVP
Diese Realitätsverweigerung wird einzig der SVP nützen und ihr zu einem billigen Wahlkampfschlager verhelfen. Dabei ist sie mit ihrer neoliberalen Tiefsteuer-Ideologie selber eine massive Zuwanderungstreiberin. In anderen Ländern wird die Migrationsdebatte hingegen offen geführt, etwa in den wirtschaftlich ebenfalls erfolgreichen Niederlanden.
Sie sind etwa so gross wie die Schweiz, haben aber doppelt so viele Einwohner. Weil das Land an der Nordsee flach ist, liess sich das bislang einigermassen bewältigen. Doch langsam ist es vielen Menschen zu viel. Im letzten Herbst wurde im Fernsehen eine Dokuserie mit dem Titel «Nederland is vol» (Die Niederlande sind voll) ausgestrahlt.
Dänemark als Gegenbeispiel?
Selbst das Wirtschaftsblatt «Financial Times» meinte, die Niederlande seien wohl «das erste Land, das die Grenzen des Wachstums erreicht hat». Bei uns findet eine solche Debatte nicht einmal im Ansatz statt. Dabei hält etwa Tobias Straumann nichts von der Annahme, dass «die hohe Einwanderungsrate der Schweiz ökonomisch alternativlos ist».
Er verweist als Gegenbeispiel auf Dänemark, ein Land mit restriktiver Einwanderungspolitik und moderatem Bevölkerungswachstum. Dennoch stehen die Skandinavier bei fast allen wirtschaftlich relevanten Indikatoren weit oben. Die Schweiz aber klammert sich an die Vorstellung, wonach nur Zuwanderung den wirtschaftlichen Erfolg garantiert.
Die SVP könnte deshalb bei den Wahlen im Oktober zu den Siegern gehören, ohne viel dafür tun zu müssen. Und eine Wiederholung des Ergebnisses von 2014 wird nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich.