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Vergilbt, unscharf, schief: US-Verlag druckt Wikipedia aus und dreht es gutgläubigen Schweizern zu Wucherpreisen an 

Vergilbt, unscharf, schief: US-Verlag druckt Wikipedia aus und dreht es gutgläubigen Schweizern zu Wucherpreisen an 

17.07.2015, 06:3117.07.2015, 11:27

Schweizer Online-Buchläden drehen unvorsichtigen Kunden Bücher an, bei denen es sich um Artikel der Online-Enzyklopädie Wikipedia handelt. Die Geprellten zahlen also für etwas, das sie gratis im Internet herunterladen und selbst ausdrucken könnten.

Diese «Bücher» stehen in keinem Regal der Welt, denn gedruckt werden sie erst, wenn eine Bestellung eintrifft. Dieses Prinzip nennt sich «Print-On-Demand» und funktioniert ausschliesslich mit Online-Shops. Bestellen kann also nur, wer über einen Internetzugang verfügt – und somit auch in der Lage wäre, denselben Inhalt kostenlos zu lesen.

Typischer Umschlag eines «Wikipedia-Buchs» von Books LLC – bestehend aus einem lizenzfreien aber themenfremden Bild.
Typischer Umschlag eines «Wikipedia-Buchs» von Books LLC – bestehend aus einem lizenzfreien aber themenfremden Bild.bild via exlibris.ch

Es geht noch absurder: Bei ausgedruckten Inhalten fallen aufgrund von Produktion und Vetrieb Kosten an, die den Preis zumindest teilweise rechtfertigen. Beim amerikanischen Print-On-Demand-Verlag Books LLC, der auch in die Schweiz liefert, bezahlt man aber auch 9.99 Dollar, um ein PDF mit lizenzfreiem Inhalt herunterzuladen. 

Neben Wikipedia-Artikeln verdient Books LLC zudem an Klassikern, deren Copyright längst erloschen ist. Dabei werden die Seiten einer alten Ausgabe neu eingescannt und manchmal mit einer Texterkennungs-Software weiterverarbeitet. Dabei passieren natürlich Fehler, manchmal gehen ganze Seiten vergessen. Die Bücher werden trotzdem ausgeliefert. Ein Lektorat gibt es nur, wenn Books LLC von einem gewissen Absatz des entsprechenden Titels ausgeht.

Von alledem verschweigt Books LLC nichts. Auf seiner 35-sprachigen Website (Englisch als Ausgangssprache, die anderen 34 verweisen auf entsprechende Google-Translate-Seiten) steht unter «Tips» der folgende Disclaimer:

«Downloads, die mit PDF/Scan gekennzeichnet sind, können Anmerkungen, unscharfe Buchstaben, vergilbtes Papier, fehlende oder schiefe Seiten enthalten oder anderswo gratis verfügbar sein. Taschenbücher mit dem Verweis OCR können zahlreiche Tippfehler enthalten, dafür können Textstellen, Illustrationen und Inhaltsverzeichnisse fehlen. Bücher, bei denen in der Autorenzeile Wikipedia oder Wikia steht, enthalten Informationen, die zum Publikationszeitpunkt auf diesen Seiten standen.»

Das Problem ist, dass Kunden diesen Disclaimer nicht sehen, wenn sie bei Ex Libris und Thalia einkaufen. Dabei sind die Preise für diese Gratis-Erzeugnisse gesalzen: 20.50 Franken zahlte ein Schweizer bei Ex Libris für einige zusammengeheftete Seiten Wikipedia, wie die Schweiz am Sonntag publik machte. 

Ein paar Seiten Wikipedia, bei Ex Libris für 20.50 Franken zu haben.
Ein paar Seiten Wikipedia, bei Ex Libris für 20.50 Franken zu haben.bild via «schweiz am sonntag»

Wie viel Books LLC mit diesem fragwürdigen Geschäftsmodell verdient, ist unbekannt. Die einzig konkrete Information auf seiner Website ist ihr Standort: Nashville, Tennessee. Rechtlich kann die Firma nicht belangt werden, solange sie ausschliesslich lizenzfreie Inhalte vertreibt und die Quelle angibt.

Auch die Schweizer Online-Buchhandlungen können nicht viel machen. Sie beziehen ihre Bücherlisten von Zwischenhändlern wie dem Buchzentrum in Hägendorf (SO). «Bei fünf Millionen Titeln können wir keine redaktionelle Kontrolle vornehmen», erklärt David Ryf, Leiter Einkauf und Verkauf. Dass auch fragwürdige Bücher auf der Liste landen, lasse sich darum nicht verhindern.

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3 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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BabetteS
17.07.2015 08:27registriert Juli 2015
Wer das abgebildete Buch auf exlibris sucht, merkt, dass bei der Autorenangabe eindeutig Wikipedia als Quelle angegeben wurde. Da muss sich der Kunde im genannten Artikel an der eigene Nase nehmen. Vor allem wenn Bücher zur Recherche für wissenschaftliche Abhandlungen benützt werden, ist eine saubere Abklärung von Autoren ein Muss.
Den Abdruck von literarischen Werken, die nicht mehr verlegt werden (nicht Klassiker), bewerte ich eher positiv. Wenn solche nicht auf gutenberg oder in Bibliotheken zu finden sind, bleibt nur noch ebay, wo viele Bücher überteuert als Antiquitäten angeboten werden.
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