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Mitte-Präsident: «Schweiz hat Platz für mehr als 10 Millionen Menschen»

Bei der Bundesratsfrage nimmt er den Joker: Mitte-Präsident Philipp Bregy.
Bei der Bundesratsfrage nimmt er den Joker: Mitte-Präsident Philipp Bregy.Bild: Valentin Hehli

Mitte-Präsident: «Schweiz hat Platz für mehr als 10 Millionen Menschen»

Philipp Bregy befürchtet, dass die SVP-Initiative zur 10-Millionen-Schweiz angenommen wird. Er fordert eine Notbremse und eine ehrliche Debatte über die Zuwanderung. Und er sagt, was der Bundesrat beim Zolldeal mit den USA falsch gemacht hat.
22.11.2025, 10:5122.11.2025, 10:51
Stefan Bühler, Doris Kleck / ch media

Der Bundesrat hat mit der Regierung von Donald Trump eine Einigung im Zollstreit erzielt. Sie sieht unter anderem den Import von Pouletfleisch aus den USA vor. Eine Frage, quasi zum Apéro: Haben Sie Appetit auf Chlorhühnchen?
Nein. Ich esse generell nicht so viel Poulet, und wenn, dann aus Schweizer Produktion. Ich esse lieber Rinds-, Kalbs- und Schweinefleisch.

Was halten Sie vom Zoll-Deal mit Washington?
Ich begrüsse, dass die Zölle auf 15 Prozent sinken. Das ist wichtig für die Schweizer Wirtschaft. Aber entscheidend ist der Preis, den die Schweiz für dieses Abkommen bezahlen muss. Da gibt es offene Fragen: Wie wirken sich die Investitionen der Schweizer Firmen in den USA auf unsere Wirtschaft aus? Ich schliesse nicht aus, dass sich diese Absichtserklärung als Pyrrhussieg entpuppt und wir viele Arbeitsplätze verlieren.

Wird die Mitte dem Abkommen mit den USA im Parlament zustimmen?
Diese Frage kann man heute noch nicht beantworten, weil wir das Abkommen noch gar nicht kennen. Wir wissen insbesondere auch nicht, was die Unternehmen, die 200 Milliarden Franken in den USA investieren wollen, genau planen.

Über die Investitionen der Firmen wird das Parlament kaum beraten können. Wirtschaftsminister Guy Parmelin sagt, das sei Privatsache der Unternehmen.
Das stimmt. Die Politik hat aber die Aufgabe, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Schweiz zu erhalten. Genau darum schliessen wir das Abkommen und genau daran wird das Abkommen gemessen werden. Mit den Informationen, die wir jetzt haben, lässt sich das noch nicht beurteilen – zumal erst eine unverbindliche Absichtserklärung vorliegt. Die Verhandlungen stehen noch bevor.

Die Schweiz hat im Sommer schon einmal ein Angebot gemacht, Trump hat es vom Tisch gewischt. Jetzt haben wir offenbar ein besseres nachgeliefert. Ist das nicht eine Unterwerfung?
Was heisst Unterwerfung? Ich finde das Wort aktuell in jedem Zusammenhang falsch. In Verhandlungen macht man Angebote, man sucht Lösungen, und am Ende findet man einen gemeinsamen Nenner. Das hat nichts mit Unterwerfung zu tun. Die Frage ist lediglich: Hat der Bundesrat das Maximum für die Schweiz erreicht? Das können wir beurteilen, sobald wir die Details kennen.

Eine wichtige Rolle haben die Milliardäre gespielt, die im Oval Office waren. Stört es Sie als Politiker nicht, wenn Manager oder reiche Unternehmer die Politik rechts überholen?
Mich als Parlamentarier stört das nicht. Es zeigt aber eine gewisse Hilflosigkeit des Bundesrats. Fairerweise müssen wir aber festhalten: Wir reden von Donald Trump. Bei ihm funktionieren normale diplomatische Wege nicht. Der Bundesrat hat deshalb einen anderen Weg gesucht und gefunden. Das ist in diesem Fall akzeptabel, aber kein Zukunftsmodell.

Der Bundesrat akzeptiert nicht nur Trumps Forderungen, er passt sich seinen fragwürdigen Methoden an. Gibt es Grenzen des Opportunismus?
Ja, für mich gibt es klare Grenzen. Wenn die Grundprinzipien der Schweiz ausgehebelt werden oder wenn der Deal so ist, dass wir unter dem Strich nichts gewinnen. Exportkontrollen etwa – dass die Amerikaner schauen können, wie wir mit China handeln – das geht nicht. Investitionskontrollen hingegen haben wir selbst gefordert, aber zum Schutz von Schweizer Interessen. Wir müssen souverän und eigenständig bleiben. Die Amerikaner können und dürfen nicht alles kontrollieren.

Zeigen diese Verhandlungen nicht, dass Souveränität eine Illusion ist?
Es kommt darauf an, was man unter Souveränität versteht. Wenn Souveränität bedeutet, dass man alles allein entscheidet, ist es eine Illusion. Die Schweiz ist keine Insel, wir interagieren weltweit mit anderen Staaten und Geschäftspartnern. Wenn Souveränität jedoch bedeutet, dass man eine eigenständige Position einbringen oder behalten kann, dann ist es keine Illusion.

Welches ist der bessere Deal für die Schweiz: das EU-Paket mit den Bilateralen III oder der Zoll-Deal mit den Amerikanern?
Bei den Bilateralen III kennen wir das Verhandlungsergebnis. Beim Deal mit Amerika kennen wir die Details noch nicht. Was mir auffällt: Mit der EU hat der Bundesrat klare rote Linien gesetzt, insbesondere in der Agrarpolitik. Mit Amerika offenbar nicht, darum reden wir jetzt unter anderem von Chlorhühnern. Das wird der Bundesrat irgendwann erklären müssen.

Die rote Linie hätte also auch mit Amerika in der Landwirtschaft gesetzt werden müssen?

Ja. Damit hätte man heute vielleicht weniger den Eindruck, die USA allein hätten die Verhandlungsmasse definiert. Die EU ist ein wichtiger Handelspartner, Amerika auch – aber Europa ist viel wichtiger. Unsere Exporte in die EU sind fast zehnmal so hoch wie diejenigen in die USA. Wenn wir mit der EU rote Linien setzen, müssen wir das mit Amerika ebenfalls tun. Für die Mehrheitsfähigkeit im Parlament und bei einer Abstimmung wird das entscheidend sein.

Wir bitten Sie um eine Einschätzung: Wie geht es der Schweiz heute – und wie geht es ihr in zwei Jahren?
Der Schweiz geht es gut und es wird ihr auch in zwei Jahren gut gehen. Doch die Herausforderungen werden grösser. Wir sollten deshalb nicht nur auf die nächsten beiden Jahre schauen. Die Frage ist, ob wir den Wohlstand langfristig halten können.

Worauf beruht der Wohlstand der Schweiz?

Auf einer prosperierenden Wirtschaft, diese wiederum auf guten Arbeitskräften, guter Ausbildung, hoher Qualität. Und – man vergisst es oft – unser Wohlstand beruht auch auf der Zuwanderung. Diese hat aber auch spürbare Nebenwirkungen im Alltag.

Wo erleben Sie persönlich negative Folgen der Zuwanderung?
Es geht nicht um mich, sondern um die Bevölkerung. Diese erlebt die Wachstumsschmerzen im Dichtestress im öffentlichen Verkehr, wenn der bezahlbare Wohnraum knapp wird, oder in der Schule viele fremdsprachige Kinder sind. Das sind alles sensible Bereiche.

Ist das Gedränge im ÖV wirklich eine Folge der Zuwanderung? Liegt es nicht am zunehmenden Freizeitverkehr?
Beides spielt eine Rolle. Mehr Menschen bedeuten mehr Verkehrsteilnehmende – auch im Freizeitverkehr. Und verbieten wollen wir den Freizeitverkehr sicher nicht. Die Politik muss Lösungen liefern.

Aber warum lehnt das Volk trotz angeblichem Dichtestress den Ausbau der Autobahnen ab?

Während Corona hat sich die Mentalität verändert. Man orientiert sich daran: Betrifft mich das direkt? Die Ausbauprojekte, über die wir abstimmten, haben viele nicht direkt betroffen– darum sagte die Mehrheit Nein. Früher war man solidarischer.

Corona hat die Schweizerinnen und Schweizer egoistischer gemacht?
Egoistisch ist zu hart ausgedrückt. Aber Corona hat viele Menschen individualistischer werden lassen, der Gemeinsinn ist etwas verloren gegangen.

Ist es nicht vielmehr das Gefühl, nicht teilzuhaben an den Vorteilen der Zuwanderung: Die Grossunternehmen profitieren, die kleinen Leute erleiden die Wachstumsschmerzen?
Das ist stark vereinfacht. Wir sind auf die Zuwanderung aus der EU angewiesen, gerade in Bereichen, in denen wir wenig Schweizer Arbeitskräfte haben, wie beispielsweise auf dem Bau oder in der Gastronomie. Die SVP vermischt in der politischen Diskussion bewusst Arbeits- und Asylmigration. Das macht die Debatte schwierig. 90 Prozent der Ausländer in der Schweiz arbeiten und leisten einen Beitrag. Die kriminellen und illegalen Fälle sind ein kleiner Teil.

Sie nennen Probleme, die schon lange bekannt sind. Warum liefert die Politik keine Lösungen?
Die Veränderungen kommen schneller als die Politik darauf mit Lösungen reagieren kann. Infrastruktur braucht Zeit, Einspracheverfahren dauern.

Über Zuwanderung diskutieren wir schon bald 20 Jahre, vor elf Jahren hat das Volk Ja gesagt zur Masseneinwanderungsinitiative. Die Politik hätte Zeit gehabt.
Die Politik hat einiges gemacht – aber bei Wohnraum, Verdichtung, schnellerem Bauen haben wir viel zu wenig erreicht. Und wir führen gewisse Debatten nicht konsequent genug, zum Beispiel über Sprachanforderungen bei der Einschulung von Kindern. Da wird man sofort in die fremdenfeindliche Schublade gesteckt, wenn man von den Zuwanderern eine grössere Integrationsleistung einfordert.

Machen es sich manche Arbeitgeber nicht zu einfach, in dem sie Leute im Ausland holen, die beispielsweise keine Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellen, wie Schweizerinnen und Schweizer?
Nein, das sehe ich nicht so. Viele Betriebe finden keine einheimischen Arbeitskräfte mehr: Unattraktive Arbeitszeiten, tiefe Löhne. Bei den hochqualifizierten Bereichen haben wir hingegen hausgemachte Probleme – etwa in der Medizin. Wir beschränken mit dem Numerus Clausus unseren Jungen im Inland den Zugang zum Studium und holen Tausende Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland. Da muss man ansetzen.

In diesem Bereich könnten die Kantone handeln – und die Mitte stellt die meisten Regierungsräte.
Viele dieser Fragen sind Bundessache: Numerus Clausus, Medizinausbildung, Hochschulpolitik. Die Mitte hat diese Themen im Parlament aufgegriffen.

Nächstes Jahr kommt die sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative der SVP vors Volk. Hat die Schweiz Platz für mehr als 10 Millionen Menschen?
Ja, es hat in der Schweiz Platz für mehr als 10 Millionen Menschen. Aber nur mit Begleitmassnahmen in den genannten Bereichen ÖV, Wohnraum, Schulen, Infrastruktur. Und es braucht Mechanismen zur Steuerung der Zuwanderung in Notfällen. Aber einfach sagen «kein Platz», wie das die SVP will, ist falsch.

Fürchten Sie, dass die Initiative angenommen wird?
Ja. Weil viele nur die negativen Effekte der Zuwanderung spüren und die Vorteile ausblenden. Wir müssen ehrlich über Chancen und Nebenwirkungen der Zuwanderung sprechen. Deshalb wollen wir einen direkten Gegenvorschlag zur Initiative mit einer glaubwürdigen Notbremse. Die anderen Parteien wollen das nicht, sie beabsichtigen die Initiative dem Volk einfach so vorzulegen – das ist ein Spiel mit dem Feuer.

Wie müsste die Notbremse aussehen?

Wir brauchen eine Regelung auf Verfassungsstufe, welche uns einseitig Möglichkeiten gibt, die Zuwanderung gesetzlich zu regeln – nicht nur bei wirtschaftlichen, sondern vor allem bei gesellschaftlichen Problemen. Die Bremse muss greifen, wenn es soziale Verwerfungen gibt, etwa eine Wohnungsnot, hoher Druck in den Schulen, stärkerer Dichtestress im ÖV. Dann muss der Bund regional und spezifisch nach Branchen eine Zuwanderungsbremse ziehen können, zum Beispiel mit einem Inländervorrang.

Aber Sie sagen ja selbst, dass Betriebe schliessen müssten, wenn sie keine ausländischen Arbeitskräfte rekrutieren dürfen.
Eine Bremse hat Folgen – auch für die Wirtschaft. Weniger Zuwanderung kann weniger Wachstum bedeuten. Wir müssen als Gesellschaft entscheiden: Wollen wir Wachstum oder mehr Begrenzungen? Und sind wir bereit, auf mehr Wohlstand zu verzichten, wenn wir die Zuwanderung bremsen?

Falls die 10-Millionen-Initiative angenommen wird – was bedeutet das für das Verhältnis der Schweiz zur EU?
Das wäre der Anfang vom Ende des bilateralen Wegs.

Nach einem Ja zur SVP-Initiative: Muss das Parlament die neuen EU-Verträge, die Bilateralen III, überhaupt noch behandeln, oder sind die dann faktisch erledigt?
Selbstverständlich müssten die Bilateralen III behandelt werden. Aber die Frage wird sein, wie unsere Partner in Europa reagieren, wenn wir die Personenfreizügigkeit – und damit sämtliche bilaterale Verträge – vorsorglich kündigen. Denn die Chance, dass wir in absehbarer Zeit 10-Millionen Einwohner erreichen, ist relativ gross. Darum ist die Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz nichts anderes als eine Kündigungsinitiative, einfach auf Zeit. (aargauerzeitung.ch)

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46 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Streuner
22.11.2025 11:02registriert September 2018
Ja genau. Gedränge im ÖV liegt an zunehmenden Freizeit Verkehr...Donnerstag morgen um 6.00, oder Feierabend....Moll doch... wegen dem Freizeit Verkehr. Die Infrastruktur in der Schweiz kommt an den Anschlag wegen stark wachsender Bevölkerung. Spart euch bitte solche Nebelpetarden
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Knäckebrot
22.11.2025 11:00registriert Juni 2017
"Wo erleben Sie persönlich negative Folgen der Zuwanderung?

Es geht nicht um mich, sondern um die Bevölkerung. Diese erlebt die Wachstumsschmerzen im Dichtestress im öffentlichen Verkehr, wenn der bezahlbare Wohnraum knapp wird, oder in der Schule viele fremdsprachige Kinder sind. Das sind alles sensible Bereiche."

Damit disqualifiziert er sich bei mir und zeigt, dass er tatsächlich heikle Themen meidet. Wenn es nur das wäre, wäre ja schön...
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Acai
22.11.2025 11:24registriert März 2017
„Wir müssen ehrlich über Chancen und Nebenwirkungen der Zuwanderung sprechen.“

Nein, müssen wir nicht! Das ist bereits alles bekannt. Wir müssen jetzt endlich die Probleme davon bewältigen. ZB günstigerer Wohnraum schaffen. Lösungen bitte, nicht endloses Gerede.
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