«Wir haben Vollbeschäftigung erreicht», liess kürzlich Boris Zürcher verlauten, Arbeitmarktchef des Bundes. Für die nahe Zukunft erwartet er zwar, dass die Arbeitslosenquote ansteigen wird, doch nur leicht. Auch dann würde er, so Zürcher weiter, noch immer von einer Vollbeschäftigung sprechen.
Vollbeschäftigung. Es ist eine Vollbeschäftigung, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Nicht, wenn man sich anschaut, was dieser Arbeitsmarkt alles wegstecken musste.
Es gab zahlreiche Massenentlassungen. 3000 Jobs werden allein durch die Integration der CS Schweiz in die UBS wegfallen. Mehrere Industrieunternehmen haben jüngst mit Stellenabbau für Schlagzeilen gesorgt, hinzu kommen Medienhäuser und Telekomanbieter.
Grosse und kleine Entlassungen sind anscheinend ein Massenphänomen. Das zeigen Umfragen von Adecco, einem Personalvermittler. Dessen Präsident Jean-Christophe Deslarzes sagte im Interview: «Es haben 44 Prozent der Manager ein Burn-out-Moment erlebt, weil ihnen nach Entlassungen mehr Verantwortungen aufgebürdet wurden.»
Selbst von der öffentlichen Hand kontrollierte Unternehmen stellen im grossen Stil Angestellte vor die Türe. So zum Beispiel die Spitäler in St. Gallen und in Glarus oder die Post.
Es sind so viele Abbau-Meldungen, dass UBS-Chefökonom Daniel Kalt nicht mehr von «Einzelfällen» sprechen will. Doch zugleich sagt Kalt auch: «Wir erwarten im kommenden Jahr nur einen ganz leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit.» Also immer noch Vollbeschäftigung.
Dabei hat doch die Schweizerische Nationalbank (SNB) ihre mächtigste Waffe abgefeuert: Sie hat ihre Leitzinsen angehoben. Von minus 0,75 Prozent auf 1,75 Prozent. Die Zinsen auf langfristige Festhypotheken haben sich in der Folge nahezu verdreifacht.
Das hätte den Arbeitsmarkt ausbremsen sollen. Es ist sozusagen der leicht zynische Zweck von Leitzinserhöhungen: Leute um den Job bringen, so die Stimmung killen, bis weniger Produkte und Dienstleistungen nachgefragt werden und die Inflation wieder nachlässt.
Doch der Arbeitsmarkt boomt weiter, als wäre nichts gewesen. Es ist, als hätte SNB-Chef Thomas Jordan eine Bazooka abgefeuert. Alles hält ehrfürchtig inne. Doch es war alles nur Schall und Rauch. Der Boom hält an.
Entlassungen, hohe Zinsen, aber dennoch Vollbeschäftigung. Wie kommt es zu diesem Nebeneinander von Trends, die es nicht nebeneinander geben sollte?
Man muss wohl nach einer Erklärung suchen, welche für alle westlichen Industriestaaten gleichsam gilt. Denn auch im Ausland boomen die Arbeitsmärkte, obschon die Zentralbank historisch schnell mit ihren Leitzinsen in die Höhe ging.
So ist es etwa in der Eurozone. Die Europäische Zentralbank (EZB) vermeldet, die Erwerbsbeteiligung sei so hoch wie noch nie. «Mehr Menschen als je zuvor haben einen Arbeitsplatz oder sind auf der Suche nach einem solchen.»
In den USA konnten Niedrigqualifizierte grosse Lohnerhöhungen herausholen. Laut einer Studie kam es so zu einer «unerwarteten Angleichung» der Lohnunterschiede. Ein Viertel des Anstiegs der Ungleichheit der letzten vier Jahrzehnte wurde rückgängig gemacht.
All das hätte es eigentlich gar nicht geben sollen. Als das Jahr 2023 anfing, war das Gros der Ökonomen überzeugt, der Aufschwung werde bald von einer Rezession abgelöst und die Arbeitslosigkeit steigen.
So war es nach dem Zweiten Weltkrieg fast immer, wenn Zentralbanken die Inflation in den Griff bekommen mussten. Sie gingen hoch mit den Leitzinsen, bis am Arbeitsmarkt etwas in die Brüche ging und die Inflation besiegt war.
Doch dieses Mal scheint der Sieg über die Inflation zu gelingen, ohne Rezession und ohne starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Wieso ist dieses Mal alles anders?
Zu den Experten, die Anfang 2023 keine Rezession erwarteten, gehört Goldman-Sachs-Chefökonom Jan Hatzius. Seine damaligen Überlegungen erklärte er im Interview mit dem Newsdienst «Bloomberg».
Es sei eben kein traditioneller Boom, weshalb auch die traditionellen Mechanismen nicht spielten. Hatzius sagt: «Es gab einen gemeinsamen globalen Faktor, der alles andere dominiert hat, und das ist Covid.»
Covid hat erst die globalen Lieferketten durcheinandergebracht. So gab es weit verbreitete Knappheiten und darum stark steigende Preise und rekordhohe Inflation. Als die Unternehmen die Lieferketten wieder instand gesetzt hatten, verschwanden die Knappheiten – und die Inflation liess in Rekordzeit nach, auch ohne Rezession.
Doch Corona ist wohl nicht die einzige Erklärung für den Boom auf den Arbeitsmärkten der allermeisten Industriestaaten. Da ist auch die Demografie – ein oft unterschätzter, aber extrem mächtiger Faktor.
Arbeitnehmende werden knapp, seit die demografische Alterung einen Wendepunkt überschritten hat. In den meisten westlichen Industriestaaten gehen nun jedes Jahr mehr Menschen in Rente, als dass Junge den ersten Job annehmen. Die Folge könnte eine Zeitenwende am Arbeitsmarkt sein.
Bei dieser Wende könnte sich vieles zum Besseren wenden für die Arbeitnehmenden, die Arbeit selbst und die Entlohnung. So stand es unlängst im britischen Magazin «The Economist» zu lesen, unter dem Titel: «Willkommen in einem goldenen Zeitalter für Arbeitnehmende». (aargauerzeitung.ch)
Die letzten 3-4 Jahre sind unsere Löhne in Relation gesunken…