Laura Melusine Baudenbacher kommen nur selten die Tränen. Die Lehrjahre in führenden englischen und amerikanischen Anwaltskanzleien haben sie abgehärtet. Sie weiss: Wer sich in diesem hochkompetitiven Umfeld verletzlich zeigt, wird nicht ernst genommen. Wer sich nicht durchbeisst und kämpft, besteht nicht lange. Besonders, wenn man eine Frau ist.
Doch im November 2022 kann Baudenbacher ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten. Da spannt sie gerade in Barcelona unter der spanischen Herbstsonne aus. Als sie gegen Mittag ihr Mobiltelefon einschaltet, erschrickt sie: Unzählige verpasste Anrufe und E-Mails des Generalsekretariats von Guy Parmelin ploppen auf dem Bildschirm auf.
Sie ruft zurück, und am anderen Ende der Leitung bestätigt man ihr, was sie kaum für möglich gehalten hatte: Der Wirtschaftsminister wird sie als neue Präsidentin der Wettbewerbskommission (Weko) vorschlagen. Sie legt auf, peinlich berührt, dass sie mehr als drei Stunden nicht erreichbar war. Dann folgen die Tränen. Es sind Freudentränen.
Der Bundesrat bestätigt die Personalie eine Woche später anstandslos. Damit macht er den Weg frei für die erste Frau als Chefin der Schweizer Wettbewerbsbehörde. Die heute 38-jährige Juristin soll nun über den fairen Wettbewerb wachen, das Herzstück der freien Marktwirtschaft.
Die Wahl bricht nicht nur die Männer-Dominanz an der Spitze der Weko. Sie katapultiert auch erstmals eine Person auf den Chefposten, die das Kartellrecht als Anwältin aus der Praxis kennt.
Ihre Vorgänger waren fast ausnahmslos Rechtsprofessoren, die ihr Leben an der Universität verbracht hatten. Laura Baudenbacher dagegen ist die erste Wettbewerbshüterin, die in renommierten Kanzleien in Brüssel und Köln gearbeitet hat. Sie hat Unternehmen aus Kartellrechtsfällen herausgeboxt und komplexe Zusammenschlüsse von Firmen betreut.
Jetzt steht sie als Weko-Präsidentin auf der anderen Seite. Ihre Erfahrung als Anwältin betrachtet sie als entscheidenden Vorteil. Als Kartellrechtlerin kennt sie die Argumente, Taktiken und Finten ihrer jetzigen Gegenspieler bestens. Das ist keine schlechte Voraussetzung, um gegen Unternehmen, die unerlaubte Absprachen getroffen oder ihre Macht missbraucht haben, vorzugehen.
Als sie ihr Amt Anfang 2023 antritt, muss die Weko-Präsidentin aber zunächst einen politischen Sturm überstehen. Wirtschaftsnahe Kreise wollen die Behörde zurückbinden, weil sie angeblich «selbstherrlich» und «allmächtig» agiere. Sie behaupten, die Wettbewerbshüter gingen zu Unrecht auf unschuldige Unternehmen los. Die Wehklagen aus der Wirtschaft – nicht zuletzt aus dem Umfeld des Bündner Baukartells – finden im Parlament Widerhall. FDP-Ständeräte bringen entsprechende Anträge ein. Sie wollen die Hürden, bis die Weko eingreifen kann, erhöhen.
Hinter der Attacke steht nicht nur der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Auch Baudenbachers eigene Zunft mischt mit. Einige ihrer Berufskollegen werfen der Behörde vor, «wirtschaftsfeindlich »und «weltfremd» geworden zu sein. Baudenbacher selbst wittert dahinter unlautere Motive: Gewisse Anwälte spekulierten auf längere Verfahren, die mehr Honorare abwerfen würden.
Der Ton wird zunehmend rauer, die Anschuldigungen persönlich. Hinter vorgehaltener Hand kanzeln einige Kritiker die Weko-Chefin regelrecht ab. Sie sei der Aufgabe nicht gewachsen und habe den Job nur erhalten, weil Guy Parmelin dringend eine Frau gebraucht habe, so der Tenor. Und sowieso zehre sie vom Ruf ihres Vaters, des bekannten Juristen Carl Baudenbacher. Dieser machte sich nicht nur als HSG-Professor für Wirtschaftsrecht und Präsident des Efta-Gerichtshofes in Luxemburg einen Namen, sondern auch als prononcierter Kritiker der bundesrätlichen Europapolitik.
Von solchen Anwürfen zeigt sich Laura Baudenbacher unbeeindruckt. «Wo sind die inhaltlichen Argumente?», fragt sie dann und lächelt, wie immer freundlich. Im Gespräch mit CH Media wischt sie die persönlichen Angriffe routiniert weg.
Sie hat jahrelange Erfahrung darin. Im Laufe ihrer Karriere musste sie nicht nur verschiedentlich erfahren, dass ihr Nachname feindselige Reaktionen auslösen kann. Im Jus-Studium verpasste ihr ein Professor einen Notenabzug, weil er offenbar mit ihrem Vater eine Rechnung offen hatte. Laura Baudenbacher hat auch oft erlebt, dass sie unterschätzt wird.
Haben die Attacken in der aktuellen Kartellrechtsdebatte auch damit zu tun, dass erstmals eine Frau an der Weko-Spitze steht? Laura Baudenbacher lächelt und überlegt. «Vielleicht spielt das eine Rolle. Vielleicht auch nicht.» Die Frage interessiert sie nicht sonderlich. Sie sieht sich nicht als Opfer, das Wort Feminismus fällt in fast drei Stunden Gespräch nie.
Wie sehr sie diese Haltung verinnerlicht hat, zeigt ihr Kürzel, das sie unter jedes SMS und jedes E-Mail setzt: LMB. Laura Melusine Baudenbacher. Den ungewohnten Zweitnamen hat ihre Mutter Doris für sie ausgewählt. Melusine ist eine starke, mutige und gewitzte Frau aus Theodor Fontanes Roman «Der Stechlin» (1898). Fontane hatte die Figur aus einer mittelalterlichen Sage adaptiert. «Mir gefällt der Name und seine Bedeutung. Er ist für mich ein Markenzeichen geworden», sagt Laura Baudenbacher.
Wie die sagenhafte Melusine kämpft Laura Baudenbacher auf ihre Art. Denn irgendwann weicht auch ihr das gutmütige Lächeln aus dem Gesicht. Sie sei eine sehr liebenswerte Person, sagt ihr Vater Carl.
Als Weko-Präsidentin muss sie es sein. Laura Baudenbacher geht zum Gegenangriff über. Sie lobbyiert bei Politikern, warnt in Interviews vor einem Rückfall in die dunkle, alte Kartellwirtschaft – «denken Sie nur an die Einheitsplörre in der Zeit des Bierkartells!» – und zeigt der zuständigen Ständeratskommission selbstbewusst auf, wie schädlich die Revisionspläne seien.
Für viele weibelt sie in dieser Phase zu selbstbewusst. Sogar jene, die inhaltlich auf ihrer Seite stehen, sagen, dass Baudenbacher mit ihrem «arroganten» Auftritt der Sache eher geschadet habe. Sie selbst kümmert diese Wahrnehmung kaum. Sie verstellt sich gegenüber Politikern nicht. Als Roger Köppels «Weltwoche» letzten Herbst einem Nachmittag mit Viktor Orbán veranstaltet, ist auch Baudenbacher dabei. Sie postet auf Linkedin ein Foto mit dem umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten. Sie lächelt, er blickt etwas verdutzt in die Kamera.
«Es war eine gute Gelegenheit, um SVP-Politiker von der Arbeit der Weko zu überzeugen», erklärt Baudenbacher. Zudem habe sie ein persönliches Gespräch mit Orbán geführt. Es sei eine Ehre, einen ausländischen Regierungschef zu treffen. Unabhängig davon, ob man dessen politische Ansichten teile. Sie selbst bezeichnet sich als parteilos.
Wer verstehen will, wie Laura Baudenbacher tickt, muss in die Vereinigten Staaten, nach Austin, Texas. Nach den ersten Lebensjahren in Westberlin und St.Gallen nimmt die Familie sie in der 5. Klasse in die USA mit, wo der Vater eine Gastprofessur erhalten hat. Der Aufenthalt wird zu einem Schlüsselmoment.
In Austin besucht sie zwei Jahre lang die Schule und erlebt, dass man hier – ganz anders als im behäbig-konservativen St.Gallen – die Ambitionen der Kinder fördert, statt sie auszubremsen.
Sie mag, dass die Lehrer ihre Schützlinge anspornen und es «amazing» finden, wenn sie gute Noten schreiben. Sie mag das kompetitive Umfeld und das lokale Fussballturnier, das sie mit ihrer Mannschaft damals zweimal gewinnt. Und sie mag es, dass hier alles möglich scheint, wenn man nur genug darauf hinarbeitet.
Aus dieser Zeit nimmt sie zwei Dinge mit: die für Europäer zuweilen aufgesetzt wirkende amerikanische Freundlichkeit. Und das Versprechen, dass sie alles schaffen kann, was sie sich vornimmt.
Als der Vater nach Luxemburg an den Efta-Gerichtshof gerufen wird, reist die Elfjährige mit. Als junge Erwachsene sieht sie im Haus der Familie hochrangige Politiker, Präsidenten und Diplomaten ein und aus gehen. Sie lernt, sich in diesen Kreisen zu bewegen – und dass diese Personen neben ihren Titeln auch nur Menschen sind.
Als sich zunehmend die Frage der Berufswahl stellt, meint der Vater, eine Juristin vertrage es nicht in der Familie. Die Mutter ist Ökonomin. Laura Baudenbacher zieht deshalb ein Medizinstudium in Erwägung. Als jedoch klar wird, dass sie kein Blut sehen kann, schwenkt sie doch auf ein Jus-Studium um. Ganz unbekannt ist ihr die Materie nicht. Schliesslich war sie bereits als Jugendliche dabei, wenn der Vater in St.Gallen seine jährliche Kartellrechtstagung organisierte.
Laura Baudenbacher studiert an der Universität Bern und doktoriert 2015 in Zürich bei Andreas Heinemann, ihrem Vorgänger als Präsident bei der Weko. Dass sie zum Kartellrecht findet, hat massgeblich mit ihrem Job als Gerichtsschreiberin am Bundesverwaltungsgericht zu tun, wo sie fünf Jahre lang arbeitet. Dort bereitet sie den Fall auf, der als «Elmex-Urteil» in die Geschichtsbücher eingehen sollte.
Seither gelten harte Wettbewerbsabreden grundsätzlich als erheblich. Die Weko muss nicht in Franken nachweisen, dass sie schädlich sind. Die reine Existenz einer solchen Absprache reicht aus. Es ist diese Auslegung, die zum aktuellen Streit um das Kartellgesetz geführt hat (CH Media berichtete).
Dass sie Jahre später wieder mit diesem Urteil konfrontiert werden wird – diesmal als Weko-Präsidentin –, ahnt sie damals noch nicht. Sie wendet sich dem internationalen Kartellrecht zu und versucht ihr Glück bei zwei bedeutenden Anwaltskanzleien, der englischen Kanzlei Linklaters und danach der amerikanischen Kanzlei Cleary Gottlieb Steen & Hamilton. Die Tage sind lang, die Hierarchien straff.
Dann bricht die Covid-Pandemie über die Welt herein und der Druck nimmt nochmals zu. In der Kanzlei geht die Angst um, dass massenhaft Kunden abspringen.
Laura Baudenbacher schläft noch drei Stunden pro Nacht. Sie geht kaum mehr raus, trifft niemanden mehr, sitzt nur noch im Büro, isst vor dem Bildschirm. «Da habe ich realisiert, wie eindimensional und ungesund das Leben in einer Top-Kanzlei sein kann», erzählt sie. Es sind weniger die langen Arbeitstage, die ihr zu schaffen machen. Mehr aufs Gemüt schlägt ihr die fehlende Wertschätzung und das Gefühl, ständig fremdbestimmt zu werden.
In dieser Zeit reift die Idee, mit ihrem Vater eine Anwaltskanzlei zu gründen. Als Deutschland im Februar 2021 wegen der Pandemie die Grenzen schliesst und Laura Baudenbacher gerade bei ihren Eltern in Luxemburg zu Besuch ist, haben die beiden genug Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen.
Von der eigenen Kanzlei bis an die Spitze der Weko führt dann eine Begegnung mit einem Jungpolitiker. Als sie erfährt, dass ihr Doktorvater Andreas Heinemann als Weko-Präsident zurücktritt, trifft sie sich mit Matthias Müller, dem Präsidenten der Jungfreisinnigen. Sie will ihn vor dem Führungsvakuum bei der Wettbewerbsbehörde warnen. Nachdem sie ihn einen ganzen Abend lang mit Argumenten eingedeckt hat, sagt er plötzlich: «Warum bewirbst du dich nicht?»
Laura Baudenbacher, damals 36 Jahre alt, ist perplex.
Sie spielt mit dem Gedanken, wägt ab. Matthias Müller schickt ihr am nächsten Tag eine Nachricht mit dem Stelleninserat und den Worten: «Go for it!»
Sie wagt es. Auch wenn ihr der Vater sagt: «Mit deinem Nachnamen wirst du diesen Job nicht bekommen. Der Bundesrat wird dieser Wahl nie zustimmen.» Er sollte unrecht behalten.
Mitte Juni ist ein erster Teil des Kampfs, den Laura Baudenbacher seit ihrem Amtsantritt führt, geschlagen. Der Ständerat versenkt den Angriff auf das Kartellgesetz weitgehend. Als der Entscheid kurz vor dem Mittag fällt, fluten Glückwunschbekundungen per Whatsapp Laura Baudenbachers Handy. «Ich war erleichtert, dass der Ständerat über einen ordnungspolitischen Kompass verfügt», sagt sie. Nun geht das Geschäft in den Nationalrat. Ob es dort Bestand hat? Baudenbacher will sich nicht festlegen. Sie weiss, dass es in der Politik immer Raum für Überraschungen gibt. Sie hält sich an die Devise, die sie auch ihren Klienten bei Gerichtsfällen mitgibt: «Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.»
Sobald der Abwehrkampf im Parlament durch ist, kann sich die Weko-Präsidentin wieder auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren: für fairen Wettbewerb sorgen.
Einen Wirtschaftszweig muss die Weko allerdings schonen: die Anwaltschaft, ausgerechnet. Die Zunft geniesst einen Heimatschutz wie sonst nur wenige Berufsgruppen. Internationale Kanzleien können in der Schweiz kaum Fuss fassen. Es herrscht ein eingeschränkter Wettbewerb.
Böse Zungen sprechen von einem Kartell, das sich erfolgreich ausländische Konkurrenz vom Hals hält. Hinter der gehässigen Kritik an der Weko stehen in dieser Lesart auch frustrierte Anwälte. Diese Schweizer Wirtschaftsjuristen verlieren immer öfter gegen die Behörde, die heute selbstbewusst auftritt.
So hart würde es die amtierende Weko-Präsidentin selbstverständlich nicht formulieren. Sie verweist auf die Erfolgsquoten ihrer Behörde. Als die moderne Weko 1996 ihre Arbeit aufnahm, verlor sie häufig vor Gericht, oft wegen formeller Fehler. Mittlerweile gewinnt sie vor Bundesverwaltungsgericht 70 Prozent der Fälle. Vor Bundesgericht beträgt die Quote 80 Prozent. Tendenz steigend.
«Es ist bemerkenswert, dass die Kritik an der Weko erst eskalierte, als die Gerichte vor einigen Jahren begannen, unsere Entscheide zu stützen», sagt Laura Baudenbacher. Sie lässt das so stehen. In Schweizer Ohren kann das überheblich klingen. In den USA würde man sagen: She's tough. (aargauerzeitung.ch)
Mir ist aufgefallen (hat mit Baudenbacher nichts zu tun), wie unterschiedlich man einen Umstand werten kann. Dass Laura Baudenbacher einen bekannten Vater hat, wird hier auf interessante Art und Weise als erschwerend ausgelegt. Da fänden sich sicher auch AutorInnen, die dies völlig anders bewerten würden.
Letztendlich ist aber entscheidend, wie der Job gemacht wird. Oft ist gerade die viele Kritik ein Hinweis darauf, dass gute Arbeit geleistet wird.