Wer schon in den Schweizer Bergen wandern ging, einen Gletscher bestaunte und Jahre später an den gleichen Ort zurückkehrte, dürfte es mit eigenen Augen gesehen haben: Die Naturphänomene aus Eis und Schnee sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich geschwunden, teilweise auf spektakuläre Weise.
Der Morteratsch-Gletscher verlor seit Beginn der Aufzeichnungen rund zwei Kilometer an Länge und Millionen Kubikmeter an Volumen. Gemäss Glaziologen sind alleine in den vergangenen 30 Jahren mehrere hundert, vor allem kleinere Gletscher in der Schweiz verschwunden. Insgesamt sind es nun noch gut 1400.
Immerhin gibt es im aktuellen Jahr einen Lichtblick. Den Gletschern ergeht es nämlich genau umgekehrt wie den Badi-Gästen: Je mieser das Wetter, desto besser für sie. «Niemand auf der Welt freut sich mehr über Niederschlag und Kälte als die Gletscher», sagt Glaziologe Frank Paul.
Dies gelte insbesondere für die Monate Mai und Juni, die in diesem Jahr aussergewöhnlich kühl und vor allem nass waren. In der Höhe hat bis in den Sommer hinein noch ergiebige Schneemengen gegeben – Schnee, der jetzt noch immer auf den Gletschern liegt.
Das ist insofern wichtig, als der Schnee die im Hochsommer starke Sonnenstrahlung bis zu 90 Prozent reflektiert. Es ist nicht die Sonne, die den Schnee in erster Linie zum Schmelzen bringt, sondern die Wärme.
Ganz anders das auf einem Gletscher darunterliegende Eis: Es reflektiert die Sonnenstrahlen deutlich weniger und absorbiert dafür mehr Energie. Der Schnee dient also als Schutzschild fürs Eis. Oder anders gesagt: Je später im Sommer der Schnee weggeschmolzen ist (oder der Gletscher ausgeapert ist), desto später wird das Eis angegriffen.
Glaziologe Matthias Huss kam gerade gestern von einer Besichtigung des Plaine-Morte-Gletschers in den Berner Alpen zurück. «Im Vergleich zum letzten Jahr ist die Ausaperung rund drei Wochen im Rückstand», sagt er. Noch immer lägen 1,5 bis 2 Meter Schnee auf dem Eis, der erst in einem knappen Monat weggeschmolzen sein dürfte.
«Insgesamt sind die Bedingungen seit fünf oder sechs Jahren nie mehr so gut gewesen wie dieses Jahr», freut sich der Forscher der ETH Zürich.
Ähnlich tönt es aus der Zentralschweiz: «Dem Titlis-Gletscher geht es gut, im Vergleich zum Vorjahr sind es Welten», sagt Peter Reinle, Mitglied der Bergbahnen-Geschäftsleitung. Vor einer Woche habe es 40 Zentimeter geschneit, sodass man sogar Lawinensprengungen habe vornehmen müssen.
Noch ist es zu früh, um von einem Traumjahr für die Schweizer Gletscher zu sprechen. Zu viel hängt davon ab, wie sich das Wetter in den nächsten Wochen entwickeln wird. «Abgerechnet wird erst im Herbst», sagt Glaziologe Paul.
Aufgrund der günstigen Bedingungen könne es aber durchaus sein, dass per Ende Jahr ein eigentliches Gletscherwachstum stattgefunden habe. Sprich: Dass volumenmässig übers ganze Jahr hinweg weniger Eis und Schnee weggeschmolzen ist, als hinzugekommen ist.
Nicht zu verwechseln ist der (allfällige) Massenzuwachs mit der Länge der Gletscherzunge – diese reagiert nicht auf kurzfristige Veränderungen, sondern auf die langfristige Temperaturentwicklung.
So ist der beschleunigte Gletscherschwund, wie man ihn in den vergangenen Jahren beobachten konnte, eine Folge des sprunghaften Temperaturanstiegs in den 1980er-Jahren. «Wie sich der Gletscher an der Zunge bewegt, ist das Produkt von Dekaden, nicht von einzelnen Jahren», sagt Paul.
In touristisch besonders genutzten Regionen, etwa am Titlis, am Gurschengletscher ob Andermatt oder beim Rhônegletscher, decken die Behörden die Gletscher mit Vlies-Tüchern ab, um die Sonneneinstrahlung abzudämpfen. Im September werden sie wieder abgedeckt.
«Wir müssen aufpassen, dass es noch nicht viel geschneit hat, sonst bringt man sie kaum mehr weg», so Carlo Danioth, Pisten- und Rettungschef der Bergbahnen Andermatt. Insgesamt habe man gute Erfahrungen gemacht, seit man 2004 mit dem Abdecken eines Teils des Gurschengletschers begonnen habe.
In anderen Regionen gibt es Pläne, die Gletscher im Frühsommer künstlich zu beschneien, um den Schutz des Eises zu erhöhen. Glaziologe Paul hält von all den Massnahmen nicht sonderlich viel: «Das ist reine Pflästerlipolitik. Nur eine massive Reduktion unseres Kohlendioxid-Ausstosses würde dem Gletscherschwund langfristig entgegenwirken.» (aargauerzeitung.ch)