Die Schweiz hat im Jahr 2020 die höchste monatliche Übersterblichkeit aufgewiesen seit der Spanischen Grippe im Jahr 1918, einschliesslich aller saisonalen Grippespitzen und Hitzewellen. Dies geht aus einer noch nicht begutachteten Studie hervor.
Darüber hinaus erreichten die monatlichen Spitzenwerte im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie fast die Werte vom Januar 1890, als die Russische Grippe ihren Höhepunkt verzeichnete. Während diese Krankheit grassierte, ergriffen die Behörden hierzulande kaum Massnahmen, um die Ausbreitung einzudämmen.
Mit Todeszahlen allein lässt sich die Schwere von Pandemien kaum vergleichen, da früher etwa die Bevölkerungszahlen und die Lebenserwartung tiefer waren. Deshalb greifen Statistiker, Epidemiologinnen und Historiker auf die Übersterblichkeit zurück. Das Bundesamt für Statistik (BFS) berechnet diesen Indikator seit dem Jahr 1974.
Die Forschenden um den Historiker Kaspar Staub von der Universität Zürich und den Epidemiologen Marcel Zwahlen von der Universität Bern blickten nun in Zusammenarbeit mit dem BFS über 140 Jahre zurück: Sie verglichen monatsweise und aufgeschlüsselt nach Altersstruktur die tatsächlichen mit den erwarteten Todesfällen, die sich aus der Entwicklung der jeweils fünf vorangegangenen Jahre ergaben. Gemäss den Berechnungen lag die Übersterblichkeit 1890 übers ganze Jahr gesehen bei 6 Prozent, 1918 bei 49 Prozent, im 2020 bei 14 Prozent.
Für ihre Studie ermittelten die Forschenden ebenfalls für Spanien und Schweden die Übersterblichkeit der mindestens letzten hundert Jahre. In dieser Zeit wurde Europa nicht nur von der Corona-Pandemie und der Spanischen Grippe heimgesucht, sondern auch von der Asiatischen Grippe (1957), der Hongkong-Grippe (1968), der Chinesisch-Russische Grippe (1977) und der Schweinegrippe (2009).
Demnach wiesen auch Spanien und Schweden im Jahr 2020 die höchste Übersterblichkeit seit der Spanischen Grippe auf, wobei die Jahre des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) nicht berücksichtigt wurden. «Die Ergebnisse verdeutlichen die historische Dimension der Corona-Pandemie», sagte der Historiker Staub im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Während die Pandemien der Jahre 1890 und 1957 alle Altersgruppen relativ gleichmässig betrafen, waren es während der Spanischen Grippe insbesondere junge Menschen, vor allem junge Männer, die verstarben. Die Corona-Pandemie verursachte vor allem eine Übersterblichkeit bei älteren Menschen.
In der Schweiz starben gemäss Zahlen des BFS nach dem Abklingen der zweiten Welle im Jahr 2021 weniger ältere Menschen als zu erwarten gewesen wäre. Das könnte unter anderen daran gelegen haben, dass das Leben von manchen Covid-19-Toten nur um wenige Wochen oder Monate verkürzt wurde.
Doch Letztere machten kaum mehr als ein Fünftel aus, vermutet Epidemiologe Zwahlen. «Diese nur um kurze Zeit vorgeschobenen Todesfälle erklären das Geschehen nicht», sagte er. Tatsächlich bewegt sich die Kurve der Todesfälle seit Monaten wieder im Bereich des statistisch zu erwartenden Werts, wenn auch an der unteren Grenze.
Der Zürcher Historiker Staub weist darauf hin, dass die Studie nur als Zwischenbewertung angesehen werden könne. Denn noch sei die Corona-Pandemie nicht vorbei, eine abschliessende historische Einordnung sei erst später durchführbar. Beispielsweise sei eine sogenannte «Echo-Welle» möglich, wie sie in den Jahren der Russischen Grippe sowie besonders ausgeprägt im Jahr 1920 nach dem Höhepunkt der Spanischen Grippe beobachtet werden konnte.
Zudem sei die Übersterblichkeit nur eine wichtige Kennzahl, um das Ausmass von Pandemien abzuschätzen, so Staub. Wichtig seien etwa auch die wirtschaftlichen, psychischen und andere gesundheitliche Folgen, wie etwa Long Covid bei der Corona-Pandemie.
Die Forschenden konzentrierten sich auf die Schweiz, Spanien und Schweden, da sich die Übersterblichkeit dort zuverlässig berechnen liess. Denn nicht nur waren Daten lückenlos vorhanden, sondern die Länder waren während der Weltkriege auch nicht in Kampfhandlungen verstrickt und die Landesgrenzen hatten sich nicht verändert.