«Sie ist nicht gefallen» – der Schweizer DDR-Botschafter, dem der Mauerfall missfiel
Der «Tages-Anzeiger» stiess am 9. November 1989 auf bundesrätliche Gleichgültigkeit. Während die Bilder der gefallenen Mauer über unzählige Fernseher flimmerten und zeigten, wie DDR-Bürger zu Tausenden in den Westen strömten, versuchten Journalisten eine Stellungnahme des Schweizer Aussenministers René Felber zu bekommen. Doch dieser schien sich nicht für das revolutionäre Ereignis zu interessieren. Sein Sprecher meinte, der Bundesrat könne nicht zu allem seine Meinung äussern – schliesslich geschehe jeden Tag etwas Wichtiges.
Alltäglich war der Mauerfall sicher nicht. Mit seiner eigensinnigen Auslegung ist Felber im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA jedoch nicht allein, wie der deutsche Historiker Bernd Haunfelder in seinem Buch «Die DDR aus Sicht schweizerischer Diplomaten 1982 – 1990» zeigt. Haunfelder hat darin bisher unbekannte Akten des EDA aufgearbeitet.
Klappentext:
Die Korrespondenz der schweizerischen Botschaft in Ost-Berlin in den Jahren 1982 bis 1990, die überwiegend die deutsch-deutschen Beziehungen im Blick hat, enthält eine Vielzahl staunenswerter Urteile über die letzten Jahre der DDR. Themenfelder in den 96 Berichten sind die Nachrüstung, der Milliardenkredit aus Bonn, die Wirtschaftsbeziehungen, das Ausreise- und Flüchtlingsproblem, die Rolle der Friedensbewegung, Honeckers mehrfach verschobener Besuch in der Bundesrepublik und vor allem der Zusammenbruch der DDR mitsamt der sich vollziehenden Wiedervereinigung. Daneben findet das negative Verhältnis Ost-Berlins zu Moskau Erwähnung. In den zumeist kritischen und distanzierten Schreiben werden die Schwächen der DDR aufgezeigt und Defizite beim Namen genannt. Die Diplomaten stossen sich an Widersprüchen und raschen Volten sowie an der allgemeinen Tendenz, den Sozialismus schönzureden. Drei Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR verliert die Berichterstattung aber gelegentlich an kritischer Distanz. Die weitgehende Ausblendung der Probleme des Landes führt ausserdem zu eigenwilligen Schlussfolgerungen. Im Mittelpunkt steht dabei wiederholt die These, dass die DDR vor allem von Bonn ‹aus den Angeln gehoben› wurde.
Die sonderbaren Berichte des Schweizer Botschafters Franz Birrer – ein DDR-Sympathisant?
Franz Birrer war der letzte Schweizer Botschafter in Ostberlin. Noch am 21. Juni 1989 berichtet er nach Hause, dass die alte Garde um DDR-Staatschef Erich Honecker «guten Glaubens und Willens» sei, «eine neue und bessere Gesellschaft aufzubauen». Die Zahl der politischen Häftlinge in der DDR sei «gering» und das Kulturleben geprägt von «grosser Freizügigkeit».
Acht Tage nach dem Mauerfall schreibt der Diplomat in seinem Telegramm:
Vielmehr seien nur «zahlreiche neue Grenzübergangsstellen geschaffen worden, nicht mehr und nicht weniger».
Die offizielle Schweiz – Freundin der BRD
Offiziell galt die neutrale Schweiz während des Kalten Krieges als «geheimer Verbündeter» des Westens, so der Historiker Haunfelder gegenüber dem Spiegel. BRD-Kanzler Helmut Kohl habe sich als Fürsprecher der Eidgenossen in der Europäischen Gemeinschaft präsentiert.
Doch natürlich gab es unter den Schweizer Sozialdemokraten auch manch einen DDR-Sympathisanten. Viele Deutschschweizer empfanden das Auftreten der Bundesrepublik als arrogant. So schreibt auch Birrer in seinen damaligen Reporten von der «grossen» und «schwerreichen» Bundesrepublik, während die DDR «klein» und «dem übermächtigen Nachbarn beinahe schutzlos ausgeliefert» sei.
Inzwischen ist Birrer 84 Jahre alt. Und er bestreitet gegenüber dem «Spiegel», Sympathien für den SED-Staat gehabt zu haben. Er habe sich vielmehr «von Realismus» leiten lassen.
In seinen Berichten nennt Birrer meist andere Diplomaten und Vertreter des SED-Regimes als Quelle, die Demonstrationen im Herbst scheinen ihn wenig interessiert zu haben.
Das Geld der SED-Führung und die neuen Pinkelgewohnheiten der Ostberliner
Als es im Dezember 1989 in einer Kundgebung vor dem Zentralkomitee der SED darum ging, dass Führer der Sozialistischen Einheitspartei klammheimlich Milliarden D-Mark in die Schweiz geschoben hätten, war der Botschafter empört und notierte, dass «der diesbezüglichen Phantasie offensichtlich keine Grenzen gesetzt» seien. Heute weiss man, dass SED-Mitglieder tatsächlich ihre Gelder auf Schweizer Bankkonten deponierten.
Über die Einheitsfeier vom 3. Oktober 1990 schreibt der Schweizer Botschafter:
Was Birrer dafür umso mehr interessierte, waren die angeblich neuen Pinkelgewohnheiten der Ostberliner. Diese hätten inzwischen schon die Angewohnheit ihrer Westberliner Geschlechtsgenossen übernommen und würden bei Grossveranstaltungen «häufig an Hauswände oder in Parkanlagen» urinieren.
Leider weiss man nicht, wie Birrers Berichte in der Zentrale in Bern aufgenommen wurden. Doch 1991 versetzte man ihn nach Luxemburg. Birrer selbst sagt allerdings, er habe diesen Posten frei gewählt.
(rof via «Spiegel»)
