«Dicke Kinder werden noch dicker»: Nun greift Kinderarzt zur Abnehmspritze
Sie arbeiten viel mit Wachstumskurven. Was drücken diese aus?
Urs Eiholzer: Eine Wachstumskurve sagt aus, wie ein Kind auf dem Hintergrund der aktuellen Bevölkerung wächst und an Gewicht zunimmt. Wobei es da genetisch bedingt regional starke Unterschiede gibt. Weil Wachstum und Gewichtszunahme nicht in allen Ländern identisch ist, gibt es unterschiedliche Wachstumskurven für die Schweiz, für Deutschland, für Italien. Schweizer Eltern interessieren sich vor allem dafür, wie ihr Kind im Vergleich zu anderen Schweizer Kindern wächst.
Warum sind Wachstumskurven wichtig?
An der Wachstumskurve können Ärzte ablesen, ob sich Grösse und Gewicht eines Kindes normal entwickeln. Weicht das Kind von seinem Wachstumskanal auf der Wachstumskurve ab, wächst es also plötzlich weniger schnell oder ist leichter als erwartet, kann das auf Erkrankungen hindeuten. Die Wachstumskurve hilft dabei, diese frühzeitig zu erkennen.
Werden Kinder in der Schweiz immer dicker?
Auffallend sind vor allem drei Dinge. Erstens: Kinder von Einwanderinnen und Einwanderern aus dem Norden, also zum Beispiel aus Deutschland, den Niederlanden oder Skandinavien, sind im Schnitt etwas schlanker und grösser als Kinder mit zwei Schweizer Eltern. Zweitens: Kinder von Migranten und Migrantinnen aus dem Süden Europas – Italien, Portugal, aus dem Balkan, der Türkei – sind hingegen im Schnitt kleiner und schwerer. Das hat jedoch genetische Gründe und nichts damit zu tun, dass deutsche Eltern ihre Kinder gesünder ernähren würden, als italienische Eltern das tun. Würden wir das durchschnittliche Schweizer Kind mit dem durchschnittlichen portugiesischen oder süditalienischen Kind vergleichen, würden wir feststellen: Unsere Kinder sind grösser und schlanker.
Und der dritte Punkt?
Wenn man über die letzten zwei Generationen die Kinder anschaut, deren Elternteile beide aus der Schweiz sind, zeigt sich, dass Schweizer Mädchen überhaupt nicht und Schweizer Knaben im Durchschnitt nur wenig an Gewicht zugenommen haben. Nur die Kinder in den obersten Perzentilen der Gewichtskurve sind überproportional schwerer geworden. Oder anders ausgedrückt: Die dicksten Kinder werden heute noch dicker.
Woran liegt das?
Dick wird man fast ausschliesslich über den Hunger. Was genetisch vererbt wird, ist also nicht die Tendenz, dick zu werden über den Stoffwechsel. Sondern über den Appetit, der bei manchen Menschen deutlich stärker ausgeprägt ist als bei anderen. Und daraus entstehen dann verschiedene Ernährungsmuster. Menschen mit starkem Hungergefühl haben auch mehr Lust auf kalorienreiche Speisen.
Das erklärt, warum gewisse Menschen mit grösserer Wahrscheinlichkeit dick werden. Warum aber werden dicke Kinder noch dicker?
In den letzten 50 Jahren hat es fundamentale Veränderungen in unserer Gesellschaft gegeben, vor allem in zwei Punkten. Erstens haben wir sehr viel schwere Körperarbeit an Maschinen ausgelagert, wodurch der durchschnittliche Kalorienbedarf gesunken ist. Zweitens ist Essen immer günstiger in immer grösseren Mengen verfügbar. War es vor 50 Jahren noch der grösste Kostenfaktor einer Familie, sind es heute die Miete und Krankenkasse. Das heisst: Wir brauchen im Schnitt weniger Kalorien, haben aber einen viel einfacheren Zugang zu ihnen. Für Menschen mit grossem Appetit ist damit ein wichtiger Punkt weggefallen, der ihre Kalorienaufnahme früher limitiert hat.
Wie gefährlich ist Übergewicht bei Kindern?
Grundsätzlich unterscheiden sich übergewichtige Kinder gesundheitlich kaum von nicht übergewichtigen. Übergewicht im Kindesalter ist noch nicht wirklich gefährlich. Das Problem ist, dass aus einem übergewichtigen Kind in aller Regel auch ein übergewichtiger Erwachsener wird. Einfach wegen der genetischen Veranlagung von zu viel Hunger. Es ist ein Irrglaube, Kinder mit einer genetischen Prädisposition für Übergewicht hätten später ein besseres Leben, wenn man sie im Kindesalter hungern lässt.
Trotzdem ist Übergewicht für Kinder belastend.
Übergewicht ist vor allem ein soziales Stigma. Übergewichtige gelten als unattraktiv, als faul, als weniger erfolgreich. Es gibt eine ganze Reihe weiterer negativer Vorurteile, mit denen Dicke konfrontiert sind. Für Kinder und Jugendliche ist das sicher die härteste Nebenwirkung des Übergewichts.
Weshalb fällt es Übergewichtigen so schwer, abzunehmen?
Menschen werden nicht dick, weil sie keine Disziplin haben, das ist eines der vielen Stigmas, die mit Übergewicht und Adipositas verbunden sind. Vielmehr ist es so, dass Menschen, die genetisch zu Übergewicht neigen – also mehr Hunger haben als andere –, ein Übermass an Disziplin brauchen, um nicht zuzunehmen. Das mag gelingen, wenn es ihnen gut geht. Kommen aber schwierigere Lebensphasen, können sie diese Disziplin nicht mehr aufrechterhalten. Das ist dann der berühmte Jo-Jo-Effekt.
Sie behandeln in Ihrem Institut auch schon Kinder mit der Abnehmspritze. Welche Erfahrungen machen Sie da?
Im Moment haben wir, wie das auch in anderen Ländern wissenschaftlich beschrieben wird, eine Dropout-Rate von über 50 Prozent. Hauptsächlich brechen diese Jugendlichen die Therapie ab wegen der Nebenwirkungen.
Was sind das für Nebenwirkungen?
Die Abnehmspritze funktioniert vereinfacht gesagt so, dass sie den Appetit zügelt. Hinzu kommt, dass der Magen langsamer entleert und das Essen danach auch langsamer durch den Darm transportiert wird. Das ist Teil des Erfolgs. Die Konsequenz davon ist, dass Patienten schlecht wird, die weiteressen, obwohl kein Hunger mehr da ist.
Eine Abbruchquote von über 50 Prozent scheint mir viel. Warum brechen so viele ab?
Es gibt halt ein grosses Missverständnis: Abnehmspritzen wie Wegovy sind kein Garant dafür, dass man abnimmt. Sie senken zwar den Appetit. Das Abnehmen gelingt aber nur, wenn die Therapie mit einer Umstellung der Ernährung einhergeht. Es braucht also immer noch Disziplin, einfach etwas weniger als ohne Wegovy. Wer dazu nicht bereit ist, bricht ab.
