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Gerichtsfall in Zürich: 21-Jährige tötet Vater – um Mutter zu retten

21-Jährige tötet Vater, um die Mutter zu retten – Bezirksgericht Zürich anerkennt Notwehr

24.08.2023, 18:0424.08.2023, 19:19
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Freispruch für eine 21-jährige Frau, die im September 2020 in Zürich-Wollishofen ihren Vater erschoss. Das Bezirksgericht Zürich anerkannte am Donnerstag, dass sie in Notwehr gehandelt hatte.

View of the district court of Zurich at Wengistrasse 28, on the occasion of the Gazprombank Switzerland court case in Zurich, taken on Wednesday, 8 March 2023. / Blick auf das Bezirksgericht Zuerich a ...
Der Fall wird heute vor dem Bezirksgericht verhandelt.Bild: keystone

Die Schweizerin erhält eine Entschädigung von rund 16'000 Franken für die Untersuchungshaft. Zudem konnte sie nach dem Vorfall nicht wie vorgesehen im Sommer 2021 die Schule abschliessen. Das holte sie inzwischen nach: Diesen Sommer bestand sie die Matur. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es kann ans kantonale Obergericht weitergezogen werden.

Das Gericht entschied im Sinn der Verteidigung. Wie die vorsitzende Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung erklärte, sei man von einer vorsätzlichen Tötung ausgegangen, verübt in einer Notwehrsituation. Die Beschuldigte habe «den Tod des Vaters im Rahmen ihrer Abwehrhandlungen akzeptiert».

Der Staatsanwalt hatte eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung und eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren gefordert. Im Tatzeitpunkt sei keine Notwehrsituation mehr gegeben gewesen.

Das Urteil sei «nicht völlig überraschend», sagte er nach der Eröffnung auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Es habe sich in Sachen Notwehr tatsächlich um einen Grenzfall gehandelt. Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei es, den «Sachverhalt in allen Aspekten abzuklären». Vor einer Entscheidung über einen allfälligen Weiterzug müsse er die schriftliche Urteilsbegründung kennen.

Gewalt im Elternschlafzimmer

Zur Tat kam es am Morgen des 24. September 2020. Die damals 18-jährige Gymnasiastin vernahm aus dem Schlafzimmer der Eltern einen Streit. Die Stimme des Vaters wurde immer lauter, jene der Mutter kippte ins Flehen.

Weil sie die Gewalttätigkeit des Vaters aus Erfahrung kannte, habe sie Angst gehabt um die Mutter, sagte die Beschuldigte in der Befragung. Als sie hinüber gegangen sei, habe sie gesehen, dass der Vater auf die Mutter schoss und nun Anstalten machte, die am Arm Getroffene zu würgen.

In ihrer Angst stiess sie den Vater von der Mutter weg. Der grosse, kräftige Mann kippte aufs Bett, erhob sich aber wieder und drohte wutentbrannt, er werde sie alle umbringen. Da habe sie die Pistole gepackt, die er weggelegt hatte, als er die Frau zu würgen begann. Sie schoss viermal und traf in Oberkörper und Kopf. Der 47-Jährige starb noch am Tatort. Die Tochter alarmierte den Notruf.

«Absolute Ausnahmesituation»

Die junge Frau habe sich in einer «absolute Ausnahmesituation» befunden, sagt die Richterin. Da könne man nicht erwarten, dass sie den Vater «verbal zur Vernunft bringen» oder einen «Warnschuss abgeben» könnte, wie der Staatsanwalt dies moniert habe, sagte die Richterin.

Es sei der Vater gewesen, der die gefährliche Situation schuf, indem er mit der geladenen Pistole in dem sehr kleinen Elternschlafzimmer auf seine Frau schoss. «Die Beschuldigte handelte in einem archaischen Überlebensmodus». Sie habe sich in einer «klaren Notwehrsituation» befunden.

«Altertümliches Familienbild»

Die Schüsse beendeten eine eigentliche Familienhölle. «Nach westlicher Auffassung» habe der Vater «ein sehr altertümliches Familienbild» gehabt, sagte der Staatsanwalt. Er sah sich als unangefochtenen Chef, alle anderen hatten zu kuschen.

Schon bei geringstem Widerspruch von Frau, Sohn oder Tochter wendete er Gewalt an, stiess Todesdrohungen aus. Die Beschuldigte sagte denn auch, falls sie damals nicht geschossen hätte, «wäre meine Mutter sicher nicht mehr da - und ich vielleicht auch nicht».

Und doch vermisse sie ihren Vater, sagte sie in ihrem Schlusswort unter Tränen. Er sei «gewaltbereit und Angst einflössend» gewesen - aber sie habe auch schöne Erinnerungen an Ferien, an Umarmungen. Trotz der schweren Zeit mit ihm habe sie ihn geliebt und wünschte, alles wäre anders gekommen. (sda)

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72 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Prinzsecond
24.08.2023 08:08registriert Januar 2021
Unvorstellbare Situation. Ich wüsste nicht ob ich in so einer Situation - mit der angeschossenen Mutter im Bett liegend, der eigene Vater sie am erwürgen - irgend einen klaren Gedanken fassen könnte. Da kickt doch der reine Überlebensinstinkt.
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caro90
24.08.2023 09:05registriert November 2015
Dieser Fall erschüttert mich. Was das mit der Psyche eines betroffenen Menschen macht ist schwer vorstellbar. Ich hoffe sehr, dass sie beste Unterstützung in juristischer wie psychologischer Hinsicht bekommt, um diese Tortur vor Gericht zu überstehen. Es ja richtig und wichtig, dass die rechtlichen Prozesse in jedem Fall korrekt ablaufen, aber es muss für die junge Frau die absolute Hölle sein. Ich hoffe, dass der Freispruch schnell erfolgt. Sie wird schon lebenslang mit dem schweren Trauma umgehen müssen. Hätte sie anders gehandelt, wäre wohl die g. Familie tot. Sie hat das Richtige gemacht.
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Madison Pierce
24.08.2023 10:09registriert September 2015
Dass der Staatsanwalt im Zweifel Anklage erheben muss, ist in diesem Fall unschön, aber in einem Rechtsstaat notwendig.

Was ich aber nicht verstehe, sind die sieben Wochen Untersuchungshaft. Ich gehe davon aus, dass die junge Frau bislang unbescholten war und keine Waffe besass. Also keine Wiederholungsgefahr. Kollusionsgefahr auch eher nicht, da die Mutter die einzige Zeugin war und nicht aussagen muss. Bleibt noch Fluchtgefahr. Im Ernst, nach diesem Schock?

Es ist grausam, nach einem solchen Schock eingesperrt zu werden, mit streng limitiertem Kontakt zur Aussenwelt.
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