Die 1980er Jahre waren für die Linke in der Stadt Zürich eine harte Zeit. Die Jugendunruhen machten ihr zu schaffen, und in der SP tobte ein Machtkampf zwischen «Büezern» und intellektuellen 68ern. Zürich war eine solide bürgerliche Stadt. Die Wende kam 1990, als die SP (plus zwei «Abtrünnige») die Mehrheit im Stadtrat eroberte.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. 2018 holten SP, Grüne und Alternative Liste (AL) sechs der neun Stadtratssitze und die absolute Mehrheit im Gemeinderat. Rotgrün ist in Zürich stärker denn je und könnte bei den Wahlen am Sonntag im Extremfall alle neun Sitze in der Exekutive erobern, wenn man ein Mandat für Grünliberal mitrechnet.
Ein Grund für die rotgrüne Dominanz ist die Schwäche der Bürgerlichen. Die SVP wartet seit 1990 auf einen Sitz im Stadtrat und wird auch dieses Jahr leer ausgehen. Die FDP ist vom «Parkplatz-Fimmel» weggekommen, mit dem sie vor allem die Agglo erfreute. Dennoch muss sie um mindestens eines ihrer zwei Stadtrats-Mandate bangen.
Der einst so stolze Zürcher Freisinn wirkt blutleer und ideenlos. Dabei wäre die Linke angreifbar. Die seit 2009 amtierende SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch hat in der Kontroverse um die «kontaminierte» Bührle-Sammlung im Neubau des Kunsthauses keine gute Figur gemacht. Dennoch wird sie nur von chancenlosen Nobodys herausgefordert.
Auch andere Stadtratsmitglieder sind mehr biedere Verwalter als aktive Gestalter. Gefährdet sind sie trotzdem nicht. Die Stadtzürcher SP kann sich den Luxus leisten, im Wahlkampf so zu tun, als wäre sie in den letzten 32 Jahren in der Opposition und nicht in der Verantwortung gewesen. Und als ob FDP und SVP unmittelbar vor der «Machtübernahme» stehen würden.
Das reflektiert das Dilemma von 30 Jahren rotgrüner Dominanz. So ergibt die städtische Bevölkerungsbefragung regelmässig sehr hohe Zustimmungswerte. Wer in Zürich wohnt, tut dies gerne. In zwei Bereichen allerdings werden Defizite ausgemacht: Bei den Wohnkosten und beim Verkehr. Er wird mittlerweile als mit Abstand grösstes Problem bezeichnet.
Dies zeigte sich auch bei einem NZZ-Podium zu den Zürcher Wahlen am Dienstag im «Kosmos», an dem unter anderem Corine Mauch teilnahm. Gefühlte 80 Prozent der 90-minütigen Debatte drehten sich um den Verkehr und vor allem das Auto. Bürgerliche und Gewerbler bezichtigen die rotgrüne Mehrheit, sie wolle es aus der Stadt verdrängen.
Selbst Rolf Hiltl, der Vegi-Food «hip» gemacht hat und sich als passionierten Rennvelofahrer bezeichnet, klagte, seine Kundschaft von ausserhalb finde nur schwer einen Parkplatz in der Stadt. Er stellte die etwas hilflose Frage in den Raum, ob die Stadt nicht stärker auf die Anliegen der auswärtigen Regionen eingehen könne: «Den Stadt-Land-Graben gibt es.»
Hart kritisiert wurde die Verkehrspolitik von SVP-Gemeinderätin Susanne Brunner, die ansonsten vor allem als Personifikation der bürgerlichen Machtlosigkeit auftrat. Corine Mauch erwiderte, auch die Stadtregierung sei mit der Verkehrssituation in Zürich nicht zufrieden. Das Problem sei aber nicht leicht zu lösen: «Es gibt zu wenig Platz in der Stadt.»
Es ist ein Kunststück, die Anliegen von Auto, Velo und öffentlichem Verkehr unter einen Hut zu bringen. Der Stadtrat setzt auf einen Ausbau von Tempo 30. Das «beruhigt» Anwohner und Velofahrer, bremst jedoch den öV aus. Und die Autofahrer von der Stadt fernhalten will die Regierung genauso wenig, auch mit Rücksicht auf das Gewerbe.
Beim Wohnen sind die Möglichkeiten der Stadt ebenfalls limitiert. Wenn Liegenschaften auf den Markt kommen, hat sie oft keinen Stich gegen renditehungrige Investoren wie Pensionskassen. In den letzten Jahren wurden zudem mehrere Neubauprojekte an Durchgangsstrassen wegen einer rigideren Auslegung des Lärmschutzes verhindert.
Die Stadtpräsidentin erinnerte deshalb am NZZ-Podium primär an die Erfolgsgeschichte von 30 Jahren Rotgrün. In den 90er Jahren litt Zürich unter der offenen Drogenszene und der Wirtschaftskrise: «Die Stadt musste neun Sparpakete schnüren.» Damals verlor sie unter dem Strich Einwohner, ehe es gegen Ende des Jahrzehnts zur Trendwende kam.
Das Wohnen in der Stadt wurde wieder attraktiv. Dabei habe es sich allerdings um ein globales Phänomen gehandelt, gab der Politgeograf Michael Hermann zu bedenken. Eine kreative, eher linke Szene zog in die Stadt, während eher bürgerliche Menschen sich ausserhalb niederliessen. Dadurch wurden die Städte zu rotgrünen Hochburgen.
Hermann erinnerte auch daran, dass der «Aufbruch» in den 90ern unter anderem der «Koalition der Vernunft» zwischen SP und FDP zu verdanken war. Sie spielte in der Drogenpolitik, aber auch bei den Parkplätzen. In einem «historischen Kompromiss» wurde festgehalten, dass für jeden neuen Parkplatz ein bestehender abgebaut werden kann.
Diesen Kompromiss hat die rotgrüne Mehrheit im Stadtparlament aufgekündigt. Der neue Verkehrsrichtplan, der im letzten November vom Stimmvolk angenommen wurden, sieht eine Reduktion der Parkiermöglichkeiten vor. Auch in anderen Bereichen liess Rotgrün die Muskeln spielen, etwa mit einer «City Card»-ID und einer Basishilfe für Sans-Papiers.
Beides wird von den Bürgerlichen bekämpft. Corine Mauch verteidigte diese Beschlüsse, und tatsächlich dienen Städte immer wieder als Laboratorien für neue Ideen. Für Michael Hermann ist die rotgrüne Mehrheit dennoch «nicht unproblematisch». Die Linke sei viel homogener als die Bürgerlichen, die ein breites Mitte-rechts-Spektrum abdecken.
Das erleichtert es der Linken, ihre Anliegen im Gemeinderat durchzudrücken, und verstärkt das Ohnmachtsgefühl bei den Bürgerlichen. Die Bevölkerung reagiert zwiespältig. Sie hat den Verkehrsrichtplan angenommen, doch in einer von Tamedia veröffentlichten Umfrage spricht sich eine Mehrheit gegen den Abbau von Parkplätzen in der blauen Zone aus.
Die rotgrüne Mehrheit im Stadtrat ist am Sonntag nicht gefährdet. Ob dies auch für den Gemeinderat gilt, wird sich zeigen und ein Indikator sein, wohin die Reise gehen soll. Es zeichnet sich eine hohe Stimmbeteiligung ab. Davon profitieren könnten die Grünliberalen, die wohl gerne (wieder) das Zünglein an der Waage spielen würden.
Zürich geht es gut. Die Stadt dürfte die Pandemie weitgehend schadlos überstehen. Wirtschaftlich findet ein Wandel von der Banken- zur Tech-Metropole statt. Neben Google will Facebook/Meta seine Präsenz an der Limmat ausbauen. Auch deshalb fehlt für eine politische Wende trotz zwiespältiger Bilanz von Rotgrün der Leidensdruck.
Aber Zürich hat ein Luxusproblem... sie sind schon seit Jahren Nummer eins und glauben wohl deshalb nichts mehr tun zu müssen. Das könnte ein Irrtum sein. Auch für die gesamte CH.
Ich hätte gerne, dass sie mit den Velowegen endlich vorwärts machen (dann würd ich mich auch wieder auf die Strasse getrauen), aber jeder Quadratzentimeter, den die Autos hergeben müssen, verursacht einen Aufschrei. Also macht man's halt langsam, damit sich die SUV-Schneeflocken dran gewöhnen, ohne dass es gleich einen Aufstand gibt.
Und ganz ehrlich: es wäre kaum besser, wenn SVP und FDP am Ruder wären. Also, es wär sicher schlimmer. Ganz sicher.