Dieses eine Kind auf dem Spielplatz
«Warum ist ihr Kind so dumm wie klein?» Das ist in meinen Ohren angeklungen. Und auch: «Warum hat ihr Kind die dümmste Frisur der Welt?» Blonde Locken, die verdächtig nach Dauerwelle aussehen und vorne an der Stirn zu einem Micro-Pony verstümmelt wurden, nur um hinten dann keck über die Schultern zu lampen.
Ein Vokuhila in Markenjeans. Stefan Effenberg in klein. Sagt hallo zum heutigen Spielplatz-Schläger. Zum Rutschen-Rüpel, dem Schaukel-Schreck und Röhren-Rohling, dem Bub, der alles tut, damit sich das Gelände im Nullkommanichts in eine Kampfzone verwandelt.
Und der natürlich für alles nichts kann, weil er erst vier Jahre alt ist.
Seine Revolution beginnt mit einem Klassiker. Das Kind geht die Rutschbahn rauf und blockiert sie so für die korrekt rutschen wollenden anderen – mehrheitlich kleineren – Kinder. Sie warten geduldig. Er wurstelt sich oben angekommen über sie drüber. Dann schreit er sie an. Er geht ganz nah an ihre Gesichter und stösst ein kurzes, urwaldiges Gebrüll aus, verkriecht sich dann in die Röhre, nur um dann noch wildgewordener wieder herauszukommen.
Kann man machen.
Ich guck trotzdem schon mal runter zu den Menschen, die im Halbkreis um den Spielplatz herumsitzen. Wer wohl für diesen schreienden Unfall von Frisur verantwortlich ist? Wo sitzt der von Parkinson befallene Edward mit den Scherenhänden? Wer schaut nicht, was sein Edelsprössling, sein Goldenkel oder Zuckerschnittennachbarssöhnlein auf dem Spielplatz Regelwidriges treibt?
Und während ich bereits in der ersten Reihe zwei verdächtige Personen ausmache, bricht hinter mir Phase 2 los.
Der Bub schupft die Kleinen jetzt die Rutsche runter und ein anderes fast vom Kletterturm.
Es ist meins. Also das fast Heruntergeschupfte.
Kann man nicht machen.
Ich sage dem Bub mit meinem strengen Gesicht, dass er das nicht machen dürfe. Dass das gefährlich sei, weil er so andere verletzen könne.
Er scheint nicht verstanden zu haben. Oder es ist ihm einfach egal. Mein strenges Gesicht hat ihm keinerlei Eindruck gemacht.
«Mami, ich wehr mi jetzt eifach!», sagt meins.
«Ja», sag ich. «Mach.»
Eventuell hab ich meinem Kind grad den Freischein gegeben, dem Rabauken eins runterzuhauen, wenn er ihm noch mal blöd kommt. Aber die Jesus-Formel mit der anderen Backe ist auf einer Plattform von eineinhalb Metern Höhe auch nicht gerade praktikabel.
Es herrscht Ausnahmezustand. Und ich mag das nicht. Ich mag diese ganze Mini-Schicksals-Gesellschaft nicht, die sich auf und unterhalb von Holzgerüsten zusammenfindet, um «Spass» zu haben. Und während die Kinder oben spielen, wirst du unten zu einem ganz anderen Game gezwungen: beobachten, abschätzen und gegebenenfalls intervenieren. Aber wann ist dieser gegebene Fall?
Lass ich meinen Abkömmling alleine da hochklettern oder nicht? Weise ich ihn zurecht, wenn er den Balance-Parkour von hinten anfängt? Und wie scheisse ich andere Kinder korrekt zusammen?
Fragen über Fragen, und allesamt werden sie unterschiedlich beantwortet. Diese himmelschreiende Kluft, die sich zuweilen zwischen Menschen auftut und weiter scheint als jeder Gump, den die Kleinen vom einen zum anderen Spielgerät machen müssen. Wie gern würde ich einfach darin verschwinden und warten, bis meine Kinder alt genug sind, ihre Kämpfe selbstständig auszutragen.
Stattdessen steh ich da und sehe zu, wie der Rabauke wegrennt und weiter seine Schneise der Zerstörung zieht. Zur Krönung seiner rebellischen Darbietung spuckt er auf die Rutsche. Ein Vater sieht es auch und denkt sich seins.
Ich brülle: «Hey, gots dir eigentli no?! Da isch mega grusig!»
Er ist wieder nicht beeindruckt.
Wo zum Teufel hockt der teilnahmslose Opa dieses dauerondulierten Vokuhila-Vandalen? Wo die telefonierende Mutter mit dem Rücken zum Tatort? Zeig dich, du personifizierte Gleichgültigkeit!
Siehst du nicht, wie das arme Mädchen mittenrein rutscht in den Sabber deines Widerlings?
Siehst du den langfadigen Schlirggen nicht, der wie zum Hohn aller Gerechten zurückbleibt auf der grünen Spassesbahn?
Siehst du das Symbol formvollendeter Respektlosigkeit nicht, jene reinste Verachtung für alles und jeden hier?
Sie sieht es. Sie beide sehen es. Mutter und Grossmutter. Das müssen sie sein. Ich habe mit grösstem detektivischem Eifer den Echtpelzschlafsack, der den Designerkinderwagen neben ihnen ziert, mit dem Markenhosen tragenden Balg zusammengebracht.
It's a match!
Schliesslich habe ich meine Kombinationsgabe im Puzzlispiel meines Sohnes bis zur Erschöpfung veredelt, da muss man nicht wie beim Memory einfach zwei gleiche Bildpaare finden, sondern da sind Zusammenhänge gefragt, da muss man den Rucksack mit der Feldflasche und die Sändeli-Förmli samt Schüfeli mit dem Chübeli verbinden.
Das passt zusammen.
Doch so sehr ich meinen Profiling-Fähigkeiten auch vertraue, so wahrhaftig meine Vorurteile auch sein mögen, ich kann nicht hingehen und die dringend Tatverdächtigen einfach anschnauzen.
Schliesslich bin ich Schweizerin. Meine Augen sind zu Fäusten geworden, die naturgemäss im Sack bleiben – beziehungsweise in den Augenhöhlen. Wär ja noch schöner.
Ich bleibe hässig stehen, blitze böse zu ihnen herüber und warte auf eine Erleuchtung. Jetzt bin ich diejenige, die nicht versteht. Die beiden Frauen haben alles mit angeschaut, was ihr Zögling da oben Verächtliches veranstaltet hat. Sie haben nicht einmal miteinander geredet. Da war nicht die geringste Ablenkung, die ihre Aufmerksamkeit hätte stören können. Waren in ihren Augen etwa nicht alle Elemente eines Verbrechens erfüllt?
Denken sie vielleicht, die Kinder regeln das unter sich? Oder sind sie der Ansicht, dass da oben schon genug Erwachsene rumstehen, dass die schon gucken? Halten sie spucken für eine angemessene Ausdrucksweise? Haben sie gewettet, wie lange es geht, bis jemand ihr Kind aus dem Verkehr zieht? Oder ist ihre Schmerzgrenze einfach noch nicht erreicht, muss erst noch ein bisschen Blut spritzen?
Mein Freund kommt vom Einkaufen zurück. «Chum, mir gönd», sagt er.
Und wir gehen.