Sport

Misshandelte Gymnastinnen: Das ergab die STV-Untersuchung

Junge Athletinnen trainieren kurz vor ihrem Einsatz waehrend der Schweizer Meisterschaften der Rhythmischen Sportgymnastik, am Samstag, 26. Mai 2018 in Biasca. (KEYSTONE/Ti-Press/Pablo Gianinazzi)
Der Untersuchungsbericht der Quälvorwürfe im Schweizer Turnsport hat es in sich.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

STV-Untersuchung: Jeder vierten Gymnastin wurden regelmässig Schmerzen zugefügt

29.01.2021, 15:1329.01.2021, 15:59
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Im Herbst schilderten ehemalige Spitzenturnerinnen der Disziplinen Kunstturnen und Rhythmische Gymnastik in den sogenannten «Magglingen-Protokollen», wie sie misshandelt und gedemütigt wurden. Der Schweizerische Turnverband kündigte darauf eine Untersuchung an. Nun wurden deren Ergebnisse durch die Zürcher Anwaltskanzlei Pachmann Rechtsanwälte vorgelegt.

Rechtsanwalt Thilo Pachmann erklärte zwar, dass nicht alle Vorwürfe erhärtet werden konnten. Dennoch sind die Ergebnisse der Befragungen, was den Rhythmischen Gymnastinnen in den letzten acht Jahren passiert ist, erschreckend.

  • Über 90 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig angeschrien.
  • Über 60 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig beleidigt.
  • Über 50 Prozent der Gymnastinnen mussten regelmässig Kommentare über ihr Aussehen über sich ergehen lassen.
  • Über 30 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig blossgestellt.
  • Über 25 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig Schmerzen zugeführt.

Die Folge der zweifelhaften Methoden laut Pachmann: Ein «konstant schlechter Gesundheitszustand der Gymnastinnen». Seine Schlussfolgerung: Die sportlichen Zielsetzungen in der Rhythmischen Gymnastik müssten stark redimensioniert werden. «Sich für Olympia zu qualifizieren, ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen und der aktuellen Infrastrukturen nicht realistisch», schreibt Pachmann in seinem Bericht.

Ebenso schlägt die Anwaltskanzlei die Einsetzung einer medizinischen Kommission sowie einer nationalen Meldestelle vor und regt einen Neustart des Verbandes mit neuem Personal an. «Die anständige und korrekte Behandlung der Gymnastinnen hat höchste Priorität, gleichzeitig müssen Trainerinnen und Funktionäre vor Vorverurteilungen geschützt werden.»

Im STV blieb kein Stein auf dem andern

Seit sich im Juni einige ehemalige Gymnastinnen an die Öffentlichkeit gewandt und gegenüber «Blick» und «NZZ» von schweren Verfehlungen sowie physischen und verbalen Übergriffen in der Rhythmischen Gymnastik berichtet hatten, blieb im STV kein Stein auf dem anderen. Felix Stingelin, der Chef Spitzensport, wurde suspendiert. Der langjährige Geschäftsführer Ruedi Hediger trat im November zurück, Fabio Corti wurde auf Beginn des Jahres als neuer STV-Präsident und Nachfolger von Erwin Grossenbacher gewählt.

Der Exekutivrat von Swiss Olympic, der Dachverband im Schweizer Sport, hiess an einer Sitzung im November eine nationale unabhängige Meldestelle gut. Auch das eidgenössische Parlament stimmte während der Dezember-Session einer Motion zur Einrichtung einer solchen zu. Diese Meldestelle soll 2022 eingeführt werden. Zudem gründete der STV eine Ethikkommission, die seit November tätig ist.

«Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können die Zukunft gestalten», sagt die neue STV-Direktorin Béatrice Wertli. Sie wird zusammen mit dem noch zu bestimmenden neuen Chef Spitzensport die Überarbeitung des Spitzensportkonzeptes der Rhythmischen Gymnastik in Angriff nehmen. Als Folge der publik gemachten Vorwürfe hatte der STV die Nationaltrainerin Iliana Dineva freigestellt und den Trainingsbetrieb im Nationalkader und im Juniorinnen-EM-Projekt bis auf Weiteres eingestellt.

Die öffentliche Debatte über die Missstände im STV befeuert hatte auch eine Reportage des «Magazins» Ende Oktober, in der neben fünf ehemaligen Gymnastinnen auch die erst wenige Monate zuvor zurückgetretenen Kunstturnerinnen Lynn Genhart und Fabienne Studer zu Wort kamen. Die beiden prangerten die Trainings- und Umgangsmethoden in Magglingen auch im Kunstturnen an und kritisierten den Frauen-Nationaltrainer Fabien Martin. In der Folge nahmen die Athletinnen des Nationalkaders um Giulia Steingruber ihren Trainer in einem an die Öffentlichkeit gerichteten Brief allerdings in Schutz. (pre/sda)

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8 Kommentare
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Schlaf
29.01.2021 17:01registriert Oktober 2019
Eine unglaubliche Schweinerei, hoffentlich wird der Stall sauber ausgemistet und den Täter/innen, Verantwortlichen einen Deckel aufgelegt.

Wenn die Kinder Erfolge hatten, schmückten sie sich mit deren Federn.
Im Training war dann alles wieder vergessen, der nächste Erfolg musste her.

Zum kotzen, solch Leute kann man ja eigentlich nur noch zum Steine klopfen verwenden/gebrauchen.
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Freddie Quecksilber
29.01.2021 18:04registriert Juli 2017
So ist das in einem Sport, wo du den Körper eines Kindes haben musst um erfolgreich zusein.
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Violett
29.01.2021 18:22registriert Juni 2020
Eine Schande für den Sport.
Was jetzt bleibt ist die Heilung und die Aufarbeitung des zuhefügten leidens.
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